Der verwaiste Thron 02 - Verrat
sein Körper mit den Schatten verschmolz. Die Nacht brachte Geborgenheit.
Wenn die Sonne doch nie aufgehen würde , dachte er. Dann würde er sein Leben in dieser Bucht verbringen, würde Fische fangen und das Ufer nach Brauchbarem absuchen. Er stellte sich vor, einer der Götter oder der Vergangenen würde ihm erscheinen und ihn nach seinem größten Wunsch fragen. Hierzubleiben , würde er antworten, unsichtbar für Menschen und Nachtschatten.
Die Kerze erlosch. Dunkelheit wärmte ihn. Gerit hob eine Hand vors Gesicht und bewegte sie. Er spürte ihren Lufthauch, ohne sie zu sehen. Erst nach einer Weile, als seine Augen sich wieder an die Nacht gewöhnten, wurde sie allmählich sichtbar. Jenseits des Boots wartete die Nacht mit ihren Geräuschen und Gerüchen. Alles war anders als am Tag, reiner und klarer.
Gerit wusste, dass er seine Entscheidung nicht mehr länger aufschieben durfte. Wahrscheinlich ließ Korvellan ihn bereits verfolgen. Er stand auf und berührte die Dinge, die er gefunden hatte, prägte sich ihre Form ein. Nichts davon wollte er mitnehmen. Sie gehörten an diesen Ort, nicht an den, zu dem er aufbrach.
Als er sicher war, dass er sie nicht vergessen würde, verließ er das Boot. Tief zog er die Kapuze ins Gesicht. Über ihm färbte sich der Himmel bereits rosa, und vom Hafen drangen die ersten Rufe der Fischer zu ihm herüber. Er war länger geblieben, als er gewollt hatte. Die Menschen von Gomeran mochten ihn nicht. Sie spuckten ihn auf der Straße an, wenn sie ihn erkannten, oder drohten ihm mit dem Tod. Jeden Tag versammelten sie sich zur Mittagsstunde vor der Kaserne der Nachtschatten und forderten seine Herausgabe. Sie sahen in ihm einen Verräter.
Wahrscheinlich bin ich das auch , dachte Gerit, obwohl er sich nicht dafür hielt. Ein Verräter handelte aus Eigennutz, aus Gier oder Rachsucht, das hatten ihn die Geschichten, die Norhan ihn hatte lesen lassen, gelehrt. Gerit hatte lange darüber nachgedacht, welchen Nutzen er aus seinem Verrat gezogen hätte, doch eingefallen war ihm nichts. Baldericks Armee in eine Falle zu locken, hatte sich richtig angefühlt, das war alles. Und so war es immer noch.
Auf dem Weg zurück in die Kaserne hielt sich Gerit vom Hafen fern. Es war nicht der kürzeste Weg, aber der sicherste. Die wenigen Menschen, denen er begegnete, beachteten ihn kaum, sondern gingen mit gesenktem Kopf und müden Blicken an ihm vorbei. Es war früh, sogar für Fischer.
Gerit nahm die Kapuze ab, als er sich den Wachen vor der Kaserne näherte. Sie nickten und öffneten das Tor.
Der Exerzierplatz war um diese Zeit noch leer. Am Fahnenmast in seiner Mitte hing keine Flagge, so wie Korvellan es angeordnet hatte. Loreanz, der Kommandant der Nachtschatten, war mit diesem Befehl nicht einverstanden und hätte ihn vielleicht sogar ignoriert, wenn Gerit nicht gekommen wäre. Loreanz hielt ihn für einen Spion Korvellans. Gerit versuchte, diesem Eindruck zu entsprechen.
Er betrat die Kaserne. Licht drang durch Schießscharten in einen breiten Gang. Auf der linken Seite lagen hinter dünnen Holztüren die Zimmer der Offiziere. Gerit hörte lautes Schnarchen und roch Wein. Die Nachtschatten aus dem Norden tranken nur selten und nie viel. Die aus dem Süden, vor allem die, die ein Leben lang allein unter Menschen gelebt hatten oder in deren Blut die Wildheit nur noch schwach war, teilten diese Mäßigung nicht. Sie waren es, die Korvellan in den Kasernen und Festungen der eroberten Städte zurückgelassen hatte.
Sie sollen verwalten, nicht herrschen , hatte er gesagt, als Gerit ihn nach dem Grund für diese Entscheidung gefragt hatte.
Gerit blieb vor der Tür des Kommandanten stehen und klopfte. Er hörte etwas rascheln, dann rief eine Stimme: »Ja?«
»Gerit.«
»Einen Moment.« Weiteres Rascheln, dann fiel ein Lichtschimmer unter der Tür hindurch. »Kommt rein.«
Gerit öffnete die Tür und betrat den kleinen Raum. Es gab kein Fenster, nur einen Lichtschacht, der nach Westen zeigte und dunkel war. Auf einem kleinen Tisch stand eine Öllampe, an der Wand ein Bett mit zerwühlten Decken. Loreanz saß auf einem Hocker vor dem Tisch, einige Pergamentrollen vor sich. In seiner menschlichen Gestalt war er kleiner als Gerit. Er hatte ein fliehendes Kinn, schütteres Haar und ein weich wirkendes Gesicht. Seine Kleidung hatte er hastig übergeworfen. Sie bestand aus einem Hemd voller Weinflecken und einer Stoffhose. Von Korvellan wusste Gerit, dass Loreanz viele Jahre als Söldner für
Weitere Kostenlose Bücher