Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
gelblicher Lichtreflex fiel auf ihr Gesicht und glättete ihre Züge.
Johan sah nur den Glanz in ihren Augen. Er hatte ihre Iris von seinem Schlafzimmer aus hundertmal fokussiert. Seine Worte kamen wie von selbst.
»Ich heiße nicht Mattes. Das ist … ein Spitzname.«
Valerie runzelte die Stirn. Sie hatte etwas anderes erwartet.
»Sag Johan zu mir«, fuhr er fort. »Das ist mein richtiger Name.«
»Gut«, erwiderte sie. »Ganz, wie du willst.« Sie nahm das letzte Eiskonfekt aus der Schachtel. »Ich nehme an, dass wir jetzt auf formelle Anreden verzichten.«
Johan atmete auf. Sie hatte es akzeptiert, vorbehaltlos, wie ihm schien.
Valerie steckte das Eiskonfekt in den Mund und hielt es mit den Zähnen fest. »Beiß ab. Dann sind wir per du.«
Er zögerte. Damit hatte er nicht gerechnet.
»Na los«, nuschelte sie. »Das Eis schmilzt.«
Seine Lippen waren ungeübt. Es wurde ein seltsamer Kuss, schmierig und unbeholfen. Johan biss in das Eiskonfekt, er schmeckte Vanille. Vanille stillte den Hunger, das hatte er in einer Zeitschrift gelesen.
Valeries Mund öffnete sich. Ihre Zunge tastete nach seiner. Er schloss die Augen. Ein Gefühl überwältigte ihn, weich und rau, süß und kalt, verflüssigte Liebe. Es war ihm, als träte er aus der Dunkelheit und stände vor einem weit geöffneten Tor. Dahinter lag ein hell erleuchteter Innenhof. Er sah Valeries Rücken, sie ging voran. Als er ihr folgen wollte und den Torbogen durchschritt, sauste ein Fallgitter auf ihn herab.
Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihn, sofort setzte die Lähmung ein. Sie fing im Gesicht an und pflanzte sich durch alle Nervenenden fort. Johans Mund stand offen, aber es war kein Gefühl mehr darin.
Valerie merkte, dass etwas nicht stimmte. Sie fühlte sich nicht abgewiesen. Es kam ihr vor, als küsste sie einen vollständig veränderten Menschen. Vorsichtig löste sie sich von ihm. Er drehte sich langsam weg. Das schien ihn große Anstrengung zu kosten. Er wirkte wie jemand, den eine quälende Erinnerung befallen hatte. Sie legte ihren Arm um ihn. Seine Augen registrierten es.
Jetzt fixierte er den Notausgang. Diese Reaktion hatte sie nicht beabsichtigt. Sie fragte sich, ob sie zu weit gegangen war. Er wirkte so unerfahren. Um nichts in der Welt wollte sie ihn überrumpeln mit ihrem Hunger nach einem Menschen, der ihr geben konnte, was ihr die meiste Zeit ihres Lebens vorenthalten worden war und wozu sie sich selbst kaum mehr in der Lage sah. Woran sie aber arbeitete, mit all der Unerfahrenheit, die sie in solchen Dingen besaß. Annäherung, Bezauberung, Intimität. Das war so neu für sie, wie es für Sheila sein mochte. Jetzt durfte sie dies alles entdecken. Vielleicht ging es Johan ähnlich. Menschen, die sich auf eine tief greifende Weise zueinander hingezogen fühlten, unterschieden sich kaum voneinander, jedenfalls nicht im Wesentlichen, dachte sie. Warum sollte nicht auch Johan eine Vergangenheit haben, die ihn von den Menschen entfernte?
Der Film fing an. Valerie drückte Johans Hand. Er sah sie nicht an, strich stattdessen über den Stoffbezug der Sitze. Sie hatte keine Ahnung, was ihm wie ein Erdrutsch auf der Seele lag. Aber sie schwor sich, jeden Brocken einzeln zu entfernen.
»Inzwischen kann ich das Ding im Schlaf runterbeten«, sagte Photini. Sie hatte eine Kopie des kompletten Lieds von der Glocke an die Pinnwand geheftet und eine auf ihrem Schreibtisch liegen. Es waren jeweils fünf Seiten. Beharrlich gab sie einzelne Zeilen in die Suchfunktion des Computers ein. Es war eine unzuverlässige Vorgehensweise, da längst nicht alle Akten digitalisiert waren. Der Datenhorizont reichte gerade einmal bis 1992. Immer wenn Gelder für einen Praktikanten bewilligt wurden, musste sich ein Student an den Scanner stellen, die alten maschinengeschriebenen Unterlagen einlesen und die Datensätze danach durch ein Schrifterkennungsprogramm laufen lassen, weil die Schreibmaschinen der Kölner Polizei vor der Umstellung auf Computer museumsreif gewesen waren.
Raupach hatte die Digitalisierung begrüßt. Auf einem Bildschirm konnte man einfach mehr erkennen als auf einem Blatt Papier, das in eine Walze gespannt war. Vor über zehn Jahren hatte seine praktische Veranlagung noch die Oberhand besessen. Jetzt hielt er sich für einen Umstandskrämer. Mit jedem Problem, das auf ihn eingestürzt war, hatte er sich eine neue Marotte zugelegt. Das war seine Methode, anpassungsfähig zu bleiben. Doch im Umgang mit dem Computer kam es nicht nur auf
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