Der vierzehnte Stein
hinten gekämmt trug, er hatte die gepflegtesten Hände, die man jemals im Dorf gesehen, und die schickste Kleidung, die je einer getragen hatte. Als käme der Kerl jeden Abend geradewegs aus der Oper, sagte der Pfarrer, und der hatte ja schon von Berufs wegen nachsichtig zu sein. Richter Fulgence trug stets ein helles Hemd, einen schmalen Binder, einen dunklen Anzug und je nach Jahreszeit einen kurzen oder langen Umhang aus grauem oder schwarzem Tuch.«
» E in feiner Pinkel? Ein Wichtigtuer?«
»Nein, Danglard, ein Mann, kaltblütig wie der Meeraal. Wenn er ins Dorf kam, grüßten ihn die Alten auf den Bänken ehrerbietig mit einem Gemurmel, das sich über den gesamten Platz ausbreitete, während gleichzeitig jedes Gespräch verstummte. Es war mehr als Respekt, es war Faszination und beinahe so etwas wie Ergebenheit. Wo Richter Fulgence ging, ließ er eine Schar von Sklaven zurück, die er keines Blickes würdigte, so wie ein Schiff eine Spur von Gischt hinterläßt und seine Fahrt fortsetzt. Man hätte sich vorstellen können, daß er, auf einer steinernen Bank sitzend, noch immer Recht sprach, während der Pyrenäenpöbel zu seinen Füßen kroch. Aber vor allem hatten wir Angst. Alle. Die Großen, die Kleinen, die Alten. Und niemand hätte sagen können, warum. Meine Mutter hielt uns davon ab, zum Herrenhaus zu gehen, und natürlich wetteiferten wir abends darin, wer sich am weitesten herantraute. Wir probierten beinahe jede Woche ein neues Abenteuer aus, vermutlich, um unsere Nerven und unsere Eier mal richtig zu spüren. Und das schlimmste war, der Richter Fulgence war trotz seines Alters ein sehr schöner Mann. Die alten Frauen erzählten sich flüsternd, in der Hoffnung, daß der Himmel sie nicht hörte, daß er schön wie der Teufel wäre.«
»Vielleicht die Einbildung eines zwölfjährigen Kindes?«
Mit seiner gesunden Hand kramte Adamsberg in den Akten und zog schließlich zwei Schwarzweißfotos heraus. Er beugte sich vor und warf sie Danglard auf die Knie.
»Schauen Sie ihn sich an, mein Lieber, und sagen Sie mir, ob das da das Hirngespinst eines Kindes ist.«
Danglard betrachtete die Fotografien des Richters, das eine im Dreiviertelprofil, das andere von der Seite. Er stieß einen stummen Pfiff aus.
»Schön? Beeindruckend?« fragte Adamsberg.
»Sehr«, bestätigte Danglard und ordnete die Fotos wieder ein.
»Und dennoch ohne Frau. Ein einsamer Rabe. So also war dieser Mann. Und wir Kinder waren so, daß wir all die Jahre über nicht aufhörten, ihn zu ärgern. Es war die große Herausforderung des Samstagabends. Wer brach Steine aus der Mauer heraus, wer bekritzelte sein Hoftor, wer warf Müll in seinen Garten, Konservenbüchsen, tote Kröten, aufgeschlitzte Krähen? So sind die Kinder in diesen kleinen Dörfern, Danglard, und genauso war auch ich. In der Bande gab’s welche, die steckten Kröten eine angezündete Zigarette ins Maul, und nach drei oder vier Zügen explodierten sie. Wie ein Feuerwerk, die Eingeweide spritzten nur so heraus. Ich sah zu. Ermüde ich Sie?«
»Nein«, sagte Danglard und nahm einen ganz kleinen Schluck von seinem Wacholderschnaps, den er sich wie ein armer Mann, ein wenig traurig lächelnd, weise einteilte.
In diesem Punkt machte sich Adamsberg allerdings keine Sorgen, immerhin hatte sich sein Stellvertreter das Glas bis zum Rand vollgegossen.
»Nein«, wiederholte Danglard. »Erzählen Sie weiter.«
»Es war weder etwas über seine Vergangenheit noch über seine Familie bekannt. Man wußte nur, was wie ein Gongschlag klang: daß er Richter gewesen war. Ein solch mächtiger Richter, daß sein Einfluß noch immer nicht erloschen war. Jeannot, einer der größten Draufgänger der Bande …«
»Verzeihung«, unterbrach ihn Danglard besorgt. »Explodierte die Kröte tatsächlich, oder ist das nur ein Bild?«
»Tatsächlich. Sie blähte sich auf, wurde groß wie eine grüne Melone und explodierte plötzlich. Wo war ich stehengeblieben, Danglard?«
»Bei Jeannot.«
»Jeannot, der Draufgänger, den wir alle bedingungslos bewunderten, stieg sogar über die hohe Mauer des Herrenhauses. Von den Bäumen aus schmiß er einen Stein ins Fenster des Hauses vom Allmächtigen. Jeannot wurde vor das Gericht in Tarbes geschleppt. Noch am Tage seiner Verurteilung trug er die Bißspuren der Beaucerons, die ihn fast zerfetzt hätten. Der Justizbeamte verhängte sechs Monate Besserungsanstalt. Wegen eines Steins, für ein elfjähriges Kind. Das hatte Richter Fulgence durchgesetzt.
Weitere Kostenlose Bücher