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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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für möglich gehalten.
    »Diese Kerle hätten mich fast zur Weißglut getrieben«, sagte er und zeigte auf seine Wächter. »Sie wollten mich einfach nicht durchlassen. Hier«, sagte er zu Adamsberg und reichte ihm einen Umschlag. »Und viel Glück.«
    Adamsberg hatte keine Zeit, ihm zu danken, da die Wachmänner den Capitaine sofort wieder in den Publikumsbereich zurückführten. Er besah sich den braunen Umschlag, den er in der Hand hielt.
    »Offnen Sie ihn nicht?« fragte Retancourt. »Scheint dringend zu sein.«
    »Ist es auch. Aber ich zögere.«
    Mit unsicherem Finger hob er die Klappe des Umschlags. Danglard hinterließ ihm eine Adresse in Detroit und einen Beruf, Taxifahrer. Er hatte auch den Abzug eines Fotos dazugelegt, einen Ausschnitt aus einer Website über Zeichner. Er betrachtete dieses Gesicht, das er seit dreißig Jahren nicht gesehen hatte.
    »Sie?«
    »Mein Bruder«, sagte Adamsberg leise.
    Der ihm noch immer ähnelte. Eine Adresse, ein Beruf, ein Foto. Danglard war eine hochbegabte Spürnase, was Verschollene anging, aber er mußte wie ein Ochse geschuftet haben, um in weniger als sieben Stunden zu diesem Ergebnis zu gelangen. Mit einem Erschauern machte er den Umschlag wieder zu.

31
     
    Trotz der offiziellen Herzlichkeit beim Empfang am Montrealer Flughafen, von wo Portelance und Philippe-Auguste sie abholten, hatte Adamsberg das Gefühl, abgeführt zu werden. Ziel: das Leichenschauhaus in Ottawa, trotz der späten Stunde für die beiden Franzosen, Mitternacht war längst vorbei. Zu Beginn der Fahrt versuchte Adamsberg noch, seinen ehemaligen Teamkollegen Informationen zu entlocken, aber sie blieben vage wie fremde Chauffeure. Schweigepflicht, zwecklos, weiter zu insistieren. Adamsberg gab Retancourt ein Zeichen, daß er aufgab, und nutzte die Frist zum Schlafen. Es war schon nach zwei Uhr morgens, als man sie in Ottawa weckte.
    Der Surintendant hielt einen warmherzigeren Gruß für sie bereit, schüttelte energisch ihre Hände und dankte Adamsberg, daß er der Reise zugestimmt hatte.
    »Hatte ja keine Wahl«, antwortete Adamsberg. »Sag mal, Aurèle, wir sind hundemüde. Kann deine Leiche nicht bis morgen warten?«
    »Tut mir leid, wir werden euch danach zum Hotel bringen. Aber die Familie drängt auf schnellstmögliche Rückführung. Je eher du sie gesehen hast, desto besser.«
    Adamsberg sah, wie der Blick des Surintendant ihm bei dieser Lüge auswich. Beabsichtigte Laliberté etwa, seine Müdigkeit auszunutzen? Ein alter Trick der Cochs, den er nur bei manchen Verdächtigen anwandte, aber nie bei Kollegen.
    »Dann gewähr mir wenigstens noch einen Normalen«, sagte er. »Einen starken.«
    Adamsberg und Retancourt, riesige Becher in der Hand, folgten dem Surintendant in den Raum mit den Leichenfächern, wo der wachhabende Arzt vor sich hin döste.
    »Laß uns nicht warten, Reynald«, wies Laliberté den Arzt an, »sie sind müde.«
    Reynald schlug das blaue Laken zurück, mit dem das Opfer bedeckt war.
    »Stopp«, befahl Laliberté, als das Tuch bis zu den Schultern hochgeschoben war. »Das reicht. Sieh dir das an, Adamsberg.«
    Adamsberg beugte sich über die Leiche einer sehr jungen Frau und kniff die Augen zusammen.
    »Scheiße«, stieß er hervor.
    »Bista überrascht davon?« fragte Laliberté mit unbeweglichem Lächeln.
    Adamsberg sah sich plötzlich ins Leichenschauhaus des Straßburger Vororts versetzt, vor den Körper von Elisabeth Wind. Drei nebeneinanderliegende Löcher hatten den Unterleib der jungen Toten durchbohrt. Hier, zehntausend Kilometer vom Revier des Dreizacks entfernt.
    »Ein Holzlineal, Aurèle«, bat er leise, indem er die Hand ausstreckte, »und ein Maßband. Eins mit Zentimetereinteilung, bitte.«
    Erstaunt, hörte Laliberté zu lächeln auf und ließ den Arzt die Geräte holen. Adamsberg führte schweigend seine Messungen durch, dreimal, genau wie er es drei Wochen zuvor bei dem Opfer von Schiltigheim getan hatte.
    »17,2 Zentimeter Länge und 0,8 Zentimeter Höhe«, murmelte er und schrieb die Zahlen in sein Notizheft.
    Noch einmal überprüfte er die Anordnung der Wunden, die eine absolut gerade Linie bildeten.
    »17,2 Zentimeter«, wiederholte er für sich und unterstrich dieses Maß. Drei Millimeter mehr als die maximale Länge der Querstrebe, die er kannte. Und trotzdem.
    »Die Tiefe der Wunden, Laliberté?«
    »Ungefähr sechs Daumen.«
    »Das sind?«
    Der Surintendant krauste die Stirn, als er umrechnete.
    »Zirka 15,2 Zentimeter«, erklärte der Arzt

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