Der Visionist

Körper wandern.“
    – Giordano Bruno, italienischer Philosoph der Renaissance, wegen seiner Reinkarnationslehren zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt –
    Lucian zog einen Skizzenblock aus seinem Aktenkoffer, schlug eine bestimmte Seite auf und reichte ihn Dr. Bellmer.
    Die Ärztin betrachtete das Gesicht der alten Frau genau. „Sie sieht furchtbar verängstigt aus.“
    „Und ich bin der, vor dem sie Angst hat. Das tun sie alle.“
    „Woher wissen Sie das?“
    „Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“
    Lucian hatte sich endlich eingestanden, dass er nicht nur hierherkam, um Malachai Samuels Versteck auszuspionieren. Dafür hatte das FBI nun Elgin Barindra – der das viel besser konnte als er. Den Gesprächsfetzen nach, die er im Gang belauscht hatte, machte Elgin rapide Fortschritte.
    „Was zum Teufel passiert da bloß mit mir? Kann es nicht einfach sein, dass ich ein Buch gelesen oder einen Film gesehen habe, die diese Regressionen in frühere Leben ausgelöst haben? Vielleicht habe ich durch den Unfall in Wien doch einen Hirnschaden davongetragen?“ Egal, wie sehr er gegen Dr. Bellmers hypnotische Suggestionen ankämpfte – er war ihnen jedes Mal unterlegen. Und die Wirklichkeitsnähe der Episoden, die sich in seinem Kopf abspielten, verstörte ihn zutiefst.
    „Ich weiß, wie schwer das für jemanden, der so logisch denkt wie Sie, zu akzeptieren sein muss, James. Aber ich kann Ihnen nicht die rationale Erklärung liefern, die Sie hören möchten. Wenn Sie sich nur noch eine kleine Weile darauf einlassen,nur noch ein paar Sitzungen, glaube ich, dass das, was wir hier tun, Ihnen wirklich Frieden bringen wird.“
    „Wie denn? Nehmen wir mal an, ich glaube das Unglaubliche. Nehmen wir an, jede einzelne der Frauen, die ich zeichne, ist jemand, den ich in einem früheren Leben gekannt habe, die ich schlecht behandelt habe. Selbst wenn wir herausfinden, wer sie waren – was nützt mir das heute noch? Wenn wahr ist, was ich über Reinkarnationstherapie gelesen habe, dann müsste ich diese Frauen doch in diesem Leben kennen, um meine karmische Verantwortung ihnen gegenüber zu übernehmen, oder nicht?“
    „Eine Grundannahme der Reinkarnationstherapie besagt, dass wir in jedem Leben in einen Kreis von Seelen zurückkehren, mit denen wir schon früher in Verbindungen standen. Wir müssen uns nicht erst auf die Suche nach ihnen machen. Sie sind der Hauptgrund dafür, dass wir überhaupt in diese zerbrechlichen Gefäße hineingeboren wurden.“
    „Gefäße?“
    „Ich sehe unsere physischen Körper als Gefäße. Arme, zerbrechliche Behältnisse für unser wirkliches Wesen – unsere Seele. Wenn wir von dieser Welt gehen, zerbricht nur unser Gefäß, nicht unsere Seele. Sie wandern weiter, suchen sich ein neues Gefäß, schlüpfen hinein und fangen von vorne an.“
    „Sie klingen fast wie eine Pastorin.“
    „Zu esoterisch für Sie? Okay, dann will ich es mal in wissenschaftlicheren Begriffen ausdrücken. Wir bestehen aus Energie. Energie kann nicht zerstört, nur transformiert werden. Was passiert also mit unserer Energie, unserem Potenzial, wenn wir sterben? Ist es nicht möglich, dass sie von Körper zu Körper wandert? Deepak Chopra nennt es einen ‚kreativen, nichtalgorithmischen Quantensprung‘. Er sagt, das Leben endet nicht, weil es nie begann.“
    „Sie verlangen von mir, ein neues Glaubenssystem anzunehmen.“
    „Chopra benutzt eine wunderbare Analogie: Die Essenz Ihres Wesens in Ihrem jetzigen Leben, Ihrem letzten Leben und Ihrem nächsten Leben ist immer identisch – und diese Essenz ist Ihre Seele. Er sagt, man soll sie sich wie Wasser vorstellen. Ein Regentropfen und ein Teich bestehen beide aus Wasser, und Wasser verliert seine elementaren Eigenschaften nicht, egal in welcher Form. Ob Eiswürfel, Tautropfen oder Dampfwolke, es ist immer noch Wasser, ohne Anfang und Ende. Es sind alles Transformationen desselben Stoffes.“
    „Das ist alles bloß Theorie. Jede Nacht wecken mich Träume, die ich nicht verstehe und an die ich mich nicht erinnern kann, und drängen mich dazu, diesen Mist zu zeichnen.“ Er trat den Zeichenblock, den Dr. Bellmer ihm zurückgegeben und den er auf den Boden gelegt hatte. Er glitt quer durch den Raum. „Sie haben gesagt, Sie könnten mir helfen.“
    „Das kann ich auch.“
    „Wie? Mit mehr Hypnose?“
    „Ja.“
    „Muss eine Seele immer in einem Säugling wiedergeboren werden?“
    Dr. Bellmer wirkte irritiert über den plötzlichen Themenwechsel. „Nein