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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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schroff.
    „Das reicht nicht! In der Zeit habe ich die Kisten nicht einmal geöffnet.“
    „Sie sind schon auf.“
    Als Lucian das erste Gemälde, den Klimt, herauszog und untersuchte, schnalzte er leise mit der Zunge, so wie James Ryan es immer tat, wenn er Kunstwerke begutachtete.
    „Das Licht hier ist furchtbar“, sagte er und hielt eine Lupe über die Oberfläche des Gemäldes. „Könnten Sie die Tür öffnen?“
    „Leider unmöglich.“
    „Nun, ich kann meine Arbeit nicht machen, wenn ich nicht besser sehen kann.“
    „Kann ich nicht ändern. Ich habe meine Anweisungen.“
    „Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie Ihren Auftraggeber anrufen und ihm sagen könnten, dass ich mehr Licht brauche.“
    Der FedEx-Kurier rührte sich nicht.
    Lucian zog das zweite Gemälde aus seiner Kiste, den Renoir. Er untersuchte ihn gerade dreißig Sekunden lang, als der FedEx-Kurier sagte: „Ihre Zeit ist um, Mr Ryan.“
    „Ich brauche mehr Licht und mehr Zeit. Rufen Sie Ihren Boss an. Ich werde hier nicht gegen einen willkürlichen Countdown arbeiten.“
    Dieses Mal zog der FedEx-Kurier tatsächlich sein Handy heraus. Während er telefonierte, untersuchte Lucian weiter den Renoir, so langsam und methodisch, als hinge sein Leben von der korrekten Einschätzung dieses Gemäldes ab.
    „Mein Boss sagt, tut ihm leid, aber Ihre Zeit ist um“, sagte der FedEx-Mann, das Handy immer noch am Ohr.
    „Lassen Sie mich mit ihm reden“, entgegnete Lucian knapp, die Stirn ungehalten gerunzelt.
    „Er will mit Ihnen reden, sagt er …“ Die Person am anderen Ende musste ihn unterbrochen haben, denn der Mann reichte Lucian abrupt das Handy.
    „Hallo?“
    „Mr Ryan, ich sagte Ihnen, Sie bekommen zehn Minuten. Sie brauchen bereits fünfzehn.“
    „Das Licht in diesem Lieferwagen ist völlig unzulänglich. Ich soll hier bestätigen, dass es dieselben Bilder sind, wie ich sie im Hotel ohne Zeitdruck und unter viel besseren Bedingungen gesehen habe.“
    „Ich halte mein Wort. Bei der Ehre meiner Familie, das sind dieselben Bilder, die Sie im Hotel gesehen haben.“
    Bei der Ehre meiner Familie? Diesen Ausdruck bekam man von Kriminellen nicht oft zu hören, dachte Lucian. „Ich brauche mehr Zeit.“
    „Mein Mann hat Anweisung, Sie in fünf Minuten aus dem Fahrzeug zu geleiten. Ob Sie mit oder ohne die Gemälde gehen, ist Ihre Sache. Wenn Sie nicht sicher sind, ob sie authentisch sind, lassen Sie sie liegen, und bringen Sie meine Skulptur nach New York zurück. Aber es muss Ihnen klar sein, dass ich Ihnen dieses Angebot nicht noch einmal machen werde. Also, wie wollen Sie es haben, Mr Ryan? Werden Sie mit den Gemälden gehen – oder ohne sie?“

42. KAPITEL
    Es war spät, und Elgin Barindra hätte schon längst nach Hause gehen sollen. Er hatte nur noch wenige Briefe in der Schachtel durchzusehen und war bereit für die nächste Entdeckung. Die Welt, die sich in diesen Briefen entfaltete, begann ihn zu faszinieren. Das New York der Jahrhundertwende war für die Spiritualisten, Philosophen und Wissenschaftler des Phoenix Clubs eine opulente Bühne. Für jemanden, der die Geschichte so liebte wie Elgin, waren die Stunden, die er über diesen hundert Jahre alten Briefen verbrachte, keine Arbeit, sondern eher ein Vergnügen. Tatsächlich verbrachte er so viel Zeit unten im Keller, in die Korrespondenz lange verstorbener Männer versunken, dass er sich oft etwas schwindlig fühlte, wenn er das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert im Queen-Anne-Stil verließ und in die Wirren der lauten, geschäftigen Gegenwart zurückkehrte.
    Seine Lieblingsbriefe waren die von Trevor Talmages Gattin, die sie an ihren Mann geschrieben hatte, während er sich auf archäologischen Ausgrabungen befand. Sarah Talmage berichtete von ihren Kindern Esme und Percy so detailliert und liebevoll, dass Elgin manchmal fast meinte, im Nebenraum einen kleinen Jungen oder ein kleines Mädchen spielen zu hören, oder dachte, er hätte einen Blick auf sie erhascht, als sie über einen der Gänge oben im Haus rannten, die kleinen Rabauken , wie ihre Mutter sie in ihren Briefen nannte.
    Als er zu einem Brief mit schwarzem Rand kam, einer Beileidsbezeugung zum Tod von Trevor Talmage, spürte Elgin einen Kummer, der zu Wut wurde, als er in einem weiteren Beileidsschreiben erfuhr, dass Trevor hier in diesem Gebäude ermordet worden war – von einem Einbrecher. Seine Frau und seine Kinder hatten ihn gefunden, als sie aus dem Theater nach Hause kamen.
    Er wurde zuerst

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