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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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bombardiert worden, es könnte sein, dass dir jemand folgt … Du musst mir gar nichts erklären. Ich weiß, wie belastend und beängstigend es ist, bedroht zu werden. Wenigstens hat Broderick endlich grünes Licht für deinen Polizeischutz gegeben. Sind sie unten?“
    Sie nickte. „Meine geheime Armee? Ja und danke dafür. Aber das ist alles keine Entschuldigung.“
    „Ich denke doch.“
    „Lucian, glaubst du, dass ich Solange bin? Dass ihre Seele in mir ist?“ Ihr versagte fast die Stimme.
    Er überlegte. „Ich weiß nicht“, sagte er schließlich.
    „Mehr fällt dir nicht dazu ein?“ Sie lachte, aber es war ein leises, freudloses Lachen. In diesem Augenblick wirkte alles an ihr zerbrechlich, und er musste sich zurückhalten, sie nicht in die Arme zu nehmen.
    „Kannst du darüber reden?“
    „Ich habe es so oft in Andres Augen gesehen, dass er sich das gewünscht hat. So oft, dass ich mir selbst für ihn gewünscht habe, dass es wahr wäre, damit ich zurückbringen könnte, wer er vor dem Unfall war. Ich habe nur einen Schimmer von diesem Mann gesehen und immer nur für ein paar Sekunden. Erhat mich gerettet … ich wollte ihn retten … ihn und meine Tante …“ Sie verstummte.
    „Aber was glaubst du wirklich?“
    „Ich weiß auf einmal Dinge, die ich gar nicht wissen kann, ich weiß von dir …“ Sie flüsterte, und als er sich vorbeugte, um sie besser zu hören, roch er ihren Duft, Vanille und eine Spur von Moschus. Ihre Unterlippe zitterte, und wieder war ihr eine Haarsträhne ins Gesicht gefallen. Er hob die Hand und strich sie ihr aus den Augen, und dieses Mal bemerkte er ihre Narbe nicht, als er sie küsste. Er dachte nicht daran, wer sie war oder nicht war; nur dass sie jemand war, mit dem er zusammen sein wollte, jemand, mit dem er das Unbekannte teilen konnte.
    Als Emeline sich ihm dieses Mal entzog, lächelte sie beinahe. Sie griff nach dem Päckchen und gab es ihm. „Das ist für dich.“
    Lucian riss das braune Packpapier auf und sah auf ein Gemälde in einem schlichten mattschwarzen Holzrahmen, und die Erinnerung kehrte so jäh zu ihm zurück wie eine Ohrfeige.
    Es war der Tag, bevor Solange ermordet worden war. Sie hatten die Nacht zusammen verbracht, und er war aufgewacht, in ihren Duft eingehüllt, und hatte sie hinter seiner Staffelei stehen sehen. Er hatte ein Dutzend Porträts von ihr gemacht, aber das war das erste Mal, dass sie versuchte, ein Porträt von ihm zu malen. Solange war keine realistische Malerin, sie malte üppige, traumähnliche Landschaften und hatte Mühe, seine Züge einzufangen. Sie hatte Farbe im Gesicht, auf den Händen und in ihrem Haar und war sichtlich frustriert. Er hatte über ihre Verbissenheit gelacht, und sie war wütend geworden. Sie hatten sich gestritten. Sie hatte ihm vorgeworfen, dass er ihre Anstrengungen nicht ernst nahm, und er hatte einen großen Teil des Morgens damit verbracht, sich aus seinem Fauxpas herauszureden.
    Sie hatte das Bild erst an diesem Morgen begonnen, und ihm war nicht klar gewesen, was sie versucht hatte – aber jetztverstand er es. Solange musste in ihre Wohnung zurückgegangen sein und die ganze Nacht daran gearbeitet haben. Es war ein Porträt seines schlafenden Gesichtes, überblendet mit einer Traumlandschaft, einem dunkelgrünschwarzen Wald, der mit einem blauschwarzen Himmel verschmolz, der von einer Mondsichel erhellt wurde. Das Bild war wunderschön, verstörend und tief bewegend.
    „Du hast es nie fertig gesehen“, sagte Emeline. Keine Frage, sondern eine Feststellung.
    „Woher weißt du das?“
    Sie zuckte mit den Schultern, das Lichte der Lampen tanzte auf ihrer Haut. „Ich habe geraten. Es stand auf der Staffelei. In ihrem Zimmer war nichts verändert worden, wusstest du das? Sie haben nichts angefasst. Erst als meine Mutter Selbstmord beging – übrigens in Solanges Zimmer, in ihrem Bett –, konnte ich Andre endlich dazu bringen, es mich ausräumen und neu einrichten zu lassen.“
    „Aber woher wusstest du, dass ich es nie fertig gesehen habe?“
    Sie schüttelte den Kopf. „Ich … ich weiß es nicht.“
    Er sah sich das Bild lange an, dann wandte er sich wieder ihr zu. „Warum hast du es mir mitgebracht?“
    „Auch du bist in dieser Nacht damals fast gestorben, nicht wahr? Das hat Andre mir nie gesagt. Ich habe ein paar alte Zeitungsartikel im Netz gefunden.“
    „Ich habe mir lange gewünscht, es wäre so gewesen.“
    „So ging es mir auch, als ich im Krankenhaus lag. Ich habe nicht verstanden,

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