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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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hin, die vielen Kristalle und geschnitzten Drachen und der Geruch nach Feuer und Orangen. Man bekam zumindest ein Gefühldafür, was für eine vielschichtige Frau die Therapeutin war.
    Dr. Bellmer betrachtete immer noch die Zeichnungen. „Bei unserem Telefonat haben Sie erzählt, Sie würden oft aus Ihren Träumen aufschrecken, richtig?“
    „Ja.“
    „Erzählen Sie mir etwas über den Traum, der dieses Bild hier inspiriert hat.“ Sie zeigte auf eine Skizze, die wie die anderen mit Bleistift ausgeführt war. Detailgenau und realistisch bildete sie eine Frau ab, die in einem Moment von Angst und Terror gefangen war.
    „An die Träume kann ich mich nicht erinnern.“
    „Wie fühlen Sie sich, wenn Sie aufwachen? Können Sie das beschreiben?“
    „Meistens habe ich ziemliche Kopfschmerzen.“
    „Und Sie sind wütend.“
    Es war keine Frage, sie hatte es als schlichte Tatsache formuliert. „Woher wissen Sie das?“
    „Ich habe Ihnen nur genau zugehört, Ihr Gesicht beobachtet, Ihre Reaktionen registriert. Nichts Esoterisches, keine schwarze Magie oder Tarotkarten, keine Sorge.“
    „Da bin ich beruhigt. Glaube ich.“
    „Wissen Sie, warum die Bilder Ihnen solche Angst einjagen?“
    „Sie jagen mir keine Angst ein.“ Woher zum Teufel konnte sie das wissen?
    „Warum wollen Sie diese Frauen zeichnen?“
    „Ich will sie eigentlich gar nicht zeichnen … Es fühlt sich eher an, als ob sie wollen, dass ich sie zeichne. Dass ich sie auf Papier bringe. Als ob das ihren Schmerz lindern würde.“
    „ Ihren Schmerz? Sind Sie sich da ganz sicher?“
    „Welchen Schmerz sonst?“
    „Ihren eigenen Schmerz vielleicht?“
    Er antwortete nicht.
    „Träume können irreführend sein“, sagte sie schließlich.„Sie sind gläubig, James?“
    „Ganz und gar nicht.“
    „Vielleicht religiös erzogen worden? Auch wenn Sie sich dann von der Religion abgewandt haben?“
    „Nein. Mein Vater war Protestant, und meine Mutter ist Jüdin. Aber Religion hat bei uns zu Hause keine Rolle gespielt.“ Wieder erzählte er ihr über sich selbst, aber er musste etwas antworten. Ryans religiöser Hintergrund war in all den Jahren, in denen Lucian den Kunstsachverständigen gemimt hatte, nie aufgetaucht.
    „Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?“
    Er unterbrach sie fast, so schnell kam ihm die Antwort über die Lippen. „Nein. Glauben Sie daran?“
    In einer klassischen Therapie wäre es ungewöhnlich, wenn die Therapeutin auf eine persönliche Frage einging. Doch dies hier war keine klassische Therapie.
    „Ich glaube nicht an Konzepte wie den christlichen Himmel und die Hölle. Aber ich glaube, dass die Seele weiterlebt, wenn unsere Körper sterben. Ein wenig müssen Sie auch daran glauben, oder nicht? Sonst wären Sie wohl nicht zu mir gekommen.“
    „Ich hab alles andere schon versucht.“
    „Reinkarnationstherapie als letzte Hoffnung.“ Sie lachte. „Das höre ich öfter. Aber zurück zu Ihnen. Haben Sie viele Menschen verloren, die Ihnen nahestanden, James?“
    „Ich habe mir nie groß Gedanken über Reinkarnation gemacht.“ Er ignorierte ihre Fragen, doch es schien ihr nicht aufzufallen. Oder sie bemerkte es, reagierte aber nicht.
    „Geschieht in Ihrem Leben gerade etwas, dass Sie sehr stark belastet? In Ihrem Beruf?“
    „Abgesehen von den Träumen und diesen Zeichnungen? Nein.“
    „Sind Sie verheiratet? Sind Sie in einer Beziehung mit jemandem?“
    Er schüttelte den Kopf. „Unverheiratet. Ich war in den letzten Jahren mit einer Frau zusammen. Wir haben uns vor ein paar Monaten getrennt. Es geht mir gut damit. Von meinen Freunden und in meiner Familie ist niemand krank und auch nicht in Schwierigkeiten, die mich belasten.“
    „Wenn Sie eine Zeichnung fertiggestellt haben, lassen dann diese intensiven Gefühle nach? Werden die Kopfschmerzen besser?“
    „Ja. Die Kopfschmerzen sind meistens vorbei.“
    „Für wie lange?“
    „Zwei Stunden, manchmal länger.“
    „Nehmen Sie Schmerzmittel?“
    „Ja.“
    „Werden die Kopfschmerzen davon besser?“
    „Normalerweise ja. Mindestens für ein paar Stunden.“
    „Diese Frage haben Sie sich sicher auch schon gestellt, aber kann es sein, dass Ihre Reaktionen auf Nebenwirkungen der Schmerzmittel zurückzuführen sind?“
    „Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Leider nein, das habe ich schon abchecken lassen.“
    Sie schrieb etwas in ihr Notizbuch, und Lucian beobachtete sie. Sie erinnerte ihn an die Frauenfiguren der Präraffaeliten. Mit einem Mal verstand

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