Der Visionist
wir damit weiterkommen. Wenn Sie erst darüber nachdenken wollen …“
Sie bot ihm genau das, wofür er sie bezahlte: die Gelegenheit, ein zweites Mal in Malachai Samuels’ Nest zu schlüpfen. Er wusste genug über Hypnose, um Dr. Bellmer eine Sitzung lang etwas vorzutäuschen.
„Haben Sie diese Woche noch einen Termin frei?“
10. KAPITEL
Tyler Weil führte die Zweitklässler durch die doppelten Glastüren der Ägyptischen Sammlung im Metropolitan Museum of Art. Die Kinder hatten den riesigen Saal kaum betreten, da rannten sie auch schon auseinander. Ein paar liefen zu der schrägen Glaswand im Norden, wo die zehn Meter hohen Fenster den Blick auf den Central Park freigaben. Andere wollten sich den seichten Graben anschauen, in dem Kupfer-und Silbermünzen unter der Wasseroberfläche schimmerten. Aber die meisten rannten die Steintreppe hoch zu dem fünfundzwanzig Meter langen Tempel von Dendur.
Die Lehrerin ermahnte die Kinder und versuchte, sie wieder zusammenzutrommeln. Doch Weil schüttelte nur den Kopf. „Wenn sie sich für Kunst interessieren sollen, dann ist es das Beste, wenn man sie darin spielen lässt“, sagte er.
Der neue Direktor des Metropolitan Museums of Art freute sich immer schon auf den Dienstagmorgen, wenn er einmal aus seinem Büro im vierten Stock herauskam und Führungen für Schulkinder durchführte. Durch die Augen der Kinder entdeckte er jedes Mal etwas Neues im Museum. Und er hatte das Gefühl, dass es genau diese Erfahrung war, die ihn zu einem besseren Direktor machte.
Heute war die Führung etwas anders als sonst, denn eines der Kinder war Veronica Keyes, die Enkelin eines Mitglieds des Vorstands und einer der großzügigsten Spenderinnen des Museums. Nina und Veronica nahmen regelmäßig am Sonntagsbrunch des Museumsbeirats teil.
Das kleine Mädchen stand vor dem fünf Meter hohen Tempel – sie rannte nicht darin herum, sie spielte nicht und sie ignorierte den Sandsteinbau auch nicht, wie einige der anderen Kinder. Nein, sie schaute ihn sich prüfend an. Nina hatte Tyler Weil vorher noch angerufen und ihn gebeten, Veronica im Auge zu behalten. Das Kind hielt sich sehr gerne im Museumauf, aber bei den letzten paar Besuchen hatte etwas sie sehr beunruhigt. Einmal war sie in der Hauptlobby in Panik ausgebrochen und hatte geschrien und geweint, als wäre jemand hinter ihr her. Als Tyler Weil die Klasse vorhin am Eingang des Museums abgeholt hatte, war er in der Nähe von Veronica geblieben. Doch heute schien alles in Ordnung zu sein.
Jetzt fand Weil sie bei dem Graben, von wo aus sie die Tempelmauer hochschaute. Für eine Siebenjährige war ihr Blick ziemlich nachdenklich.
„Gefällt dir der Tempel?“, fragte er.
Sie nickte. „Er kommt von weit her.“
„Ja, er stammt aus Ägypten. Soll ich es dir auf der Karte zeigen?“
„Denken Sie denn, ich weiß nicht, wo Ägypten ist?“ Sie klang so empört, dass Weil sich ein Lächeln verkneifen musste. „Da sollten mehr Bäume um den Tempel stehen“, fügte sie noch hin zu.
„Warum das denn?“
„Für die Leute, die beten und Opfer darbringen. Damit sie sich danach im Schatten ausruhen können.“
Bei den Treffen des Museumsbeirats gab Nina immer wieder Sprüche aus dem Mund ihrer frühreifen Enkelin zum Besten. Veronica las schon auf dem Niveau einer Viertklässlerin, und Geschichtsbücher waren ihre Leidenschaft. „Sie liest, als wolle sie einfach alles erfahren, was es zu wissen gibt“, hatte Nina einmal gesagt.
„Das gebe ich an den Gärtnermeister weiter. Vielleicht kann er noch ein paar Bäume mehr unterbringen.“
„Dürfen wir uns jetzt das Rokodiehl anschauen?“
Tyler Weil musste darüber lächeln, wie sie das Wort aussprach. „Ja. Komm, wir gehen rüber.“
Zusammen gingen sie den Graben entlang. Zwei Jungen zeigten schon auf die steinerne Skulptur aus dem ersten Jahrhundert vor Christus und machten sich über das kleine Krokodilaus rotem Granit lustig.
„Hat einer von euch schon mal ein richtiges Krokodil gesehen?“, wollte Weil wissen.
Der größere der beiden schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der Skulptur zu wenden. Das Hemd hing ihm aus der Hose, und die Schnürsenkel seiner Turnschuhe waren offen. Der andere hatte einen blauen Fleck am Kinn. Er sagte: „Ich hab schon eins gesehen. In Florida. Das hatte vielleicht Riesenzähne, Mann! Können wir die Zähne von dem Krokodil hier sehen?“
Tyler erklärte, dass es eine Skulptur war und deshalb das Maul nicht aufbekam. „Im alten
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