Der Visionist
Ohren steckte. Aus ihrem Ausschnitt glitt eine silberne Scheibe, die sie an einem schwarzen Band um den Hals hängen hatte. Das Silber brach sich im Oberlicht und schien ihm zuzuzwinkern.
„Ich hatte keine Ahnung, dass Sie zeichnen“, bemerkte sie, ohne ihn anzuschauen.
Bei seinem Anruf hatte er sich als Sachverständiger für Sotheby’s vorgestellt. Er leide an Symptomen, bei denen die normalen Ärzte ihm keine Diagnose stellen könnten, hatte er ihr erklärt.
„Es ist nur ein Hobby.“
Nun schaute sie hoch zu ihm. Auf ihrer Stirn zeigten sich feine Falten, und ihre braunen Augen blickten ihn direkt und eindringlich an. Genauso war ihre nächste Frage. „Sie sagen,Sie hätten diese Frauen nie gesehen, und trotzdem beunruhigt es Sie außerordentlich, dass Sie ihr Aussehen in den Zeichnungen nicht perfekt wiedergeben können. Sie versuchen hier etwas, das unmöglich ist. Ist Ihnen das klar?“
Er antwortete nicht sofort. Mit einem Mal kam es ihm unwirklich vor, dass er sich hier befand. Er stand mit dem Rücken zum Fenster. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihm breit, als stünde er auf der anderen Straßenseite in dem Apartment des FBI und gleichzeitig genau hier in dem Gebäude, das er, Matt und Comley schon so lange ausspionierten. Im Moment war einer der beiden dort, schaute durch das Fernglas herüber und hörte mit.
Ständig hatte Lucian Comley in den letzten Tagen bekniet, er solle ihn die Phoenix Foundation undercover, als angeblichen Patienten, infiltrieren lassen. Die Zeit wurde knapp, und es gab keine Agenten, die anstelle von Lucian hätten einspringen können. Letzten Endes hatte er Comley überzeugt. Was dieses Gebäude an Geheimnissen versteckt hielt, konnte nur jemand entdecken, der sich im Innern befand. Als Patient war Lucians Bewegungsspielraum eingeschränkt, aber die Aktion war schon ein Erfolg, wenn er Abhörwanzen an Stellen anbringen konnte, die die Richtmikrofone nicht erfassten. Würde das ausreichen? Sie mussten es auf jeden Fall versuchen. Es waren schon zu viele Menschen gestorben, die irgendeine Verbindung zu diesem Ort gehabt hatten. Falls Malachai Samuels wirklich hinter dem Einbruch bei den Wiener Memoristen stand und er die Liste der Erinnerungswerkzeuge gestohlen hatte, dann würde er bestimmt nicht jetzt aufhören. Er würde alle Mittel – legale wie illegale – ausschöpfen, um die Objekte in seinen Besitz zu bringen. Hatte er nicht schon deutlich genug gezeigt, wozu er fähig war, Beweise hin oder her?
„James, woher wissen Sie, dass etwas an den Zeichnungen fehlt, wenn Sie die Frauen noch nie gesehen haben?“
„Ich weiß es nicht.“ Es war die Wahrheit. Dass James Ryansie aussprach, die Wahrheit, die Lucian Glass fast um den Verstand brachte, war ähnlich seltsam wie die Tatsache, dass er jetzt innerhalb der Türen stand, die er so lange observiert hatte.
Dr. Bellmer wandte sich wieder den Zeichnungen zu. Vielleicht hoffte sie auf Antworten in den Schraffuren und Schattierungen, Antworten, die er ihr nicht geben konnte.
Lucians Alter Ego James Ryan brauchte ein Problem, das erklärte, warum er sich ausgerechnet an eine Reinkarnationstherapeutin wandte. Um die Sache einfach zu machen, nahm Lucian einfach sein eigenes Problem. Er glaubte nicht an Reinkarnation, aber es war vorstellbar, dass jemand auf den Gedanken kam, diese Zeichnungen hätten mit Erinnerungen aus früheren Leben zu tun. Dennoch war es das erste Mal, dass Lucian einen Aspekt seines wirklichen Lebens für Ryan benutzte, und es war kein gutes Gefühl, diese Grenze zu verwischen. Sei’s drum. Daran würde er sich eben gewöhnen müssen. Er hatte seine eigenen Träume benutzt, um einen Termin zu bekommen, und es hatte funktioniert. Er legte ungern einen Teil seiner Seele offen, aber die schiere Begeisterung, dass er endlich selbst einer der Schatten war, die er immer hinter den Fenstern gesehen hatte, machte das ungute Gefühl wett. Er war über die Türschwelle getreten und befand sich nun im Herzen des magischen Königreichs.
Dr. Bellmers Büro war, ebenso wie der Eingangsbereich und der Korridor, aufwendig renoviert worden. Verschnörkelter Stuck schloss die hohen Decken ab und rahmte die von herbstlichem Blätterwerk inspirierten Jugendstiltapeten ein. Ein Kronleuchter aus farbigem Glas warf ein weiches Licht auf die auf dem Boden ausgebreiteten Skizzen. Auf die exzentrische Persönlichkeit allerdings, die in diesem Büro arbeitete, wiesen eher die ausufernde Sammlung von Schneekugeln
Weitere Kostenlose Bücher