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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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verdächtige Aktivitäten frühzeitig zu erkennen und potenzielle Diebstähle und Vandalismus im Keim zu ersticken. Als Besucher getarnt konnte man dieses zivile Sicherheitspersonal überall im Museum antreffen. Hinter den Kulissen schützten Hunderte von Mitarbeitern die Kunstwerke durch Konservierungsmaßnahmen, durch die Kontrolle der Temperatur in den Ausstellungsräumen und durch ein ausgetüfteltes Alarmsystem. Und seit dem 11. September waren noch mehr dieser wehrhaften Soldaten angestellt worden. Noch nie war im Metropolitan Museum of Art ein Verbrechen geschehen oder hatte es überhaupt eine brenzlige Situation gegeben, die auch nur eine Schlagzeile wert gewesen wäre. Obwohl es eine so große Institution war, in der täglich Tausende von Menschen ein- und ausgingen, war das Museum immer ein ruhiger, sicherer Ort geblieben, mitten in einer der hektischsten Städte der Welt.
    Damit war heute Schluss.
    Der Matisse war mit Sicherheit nicht im Museum zerstörtworden, das Met war nur der Empfänger der grausamen Zerstörungswut. Dennoch konnte sich Tyler Weil des Gefühls nicht erwehren, er habe versagt. Das Museum war geschändet worden. Unter seiner Verantwortung. Einer Verantwortung, die er erst vor Kurzem übernommen hatte. Er hatte damit gerechnet, dass es schwierig werden würde, die Nachfolge von Philippe de Montebellos Erbe anzutreten, aber wie schwierig es werden würde, das hatte er nicht geahnt. Nach drei Jahrzehnten waren die Institution und der Mann, der sie geleitet hatte, quasi eins geworden. Das Museum stand immer noch unter Schock wegen des Wechsels an der Führungsspitze. Dass der neue Direktor höchst umstritten war und viele ihm Interessenskonflikte vorwarfen, machte die Sache nicht einfacher.
    Niemand hatte damit gerechnet, dass der Stiftungsrat den Präsidenten von Sotheby’s als neuen Direktor vorschlagen würde. Einige der Ratsmitglieder, die überstimmt worden waren, kritisierten, dass Weil nicht die akademische Ausbildung besaß, die für den Posten nötig war. Seine Befürworter hielten überzeugend dagegen, dass es bei der Leitung eines Museums im 21. Jahrhundert nicht mehr nur um die ausgestellten Kunstwerke ging. Tyler Weil war ein Experte für die Verwaltung von Schenkungen und verfügte über solides juristisches Wissen, vor allem bei Auseinandersetzungen um Kulturerbe-Ansprüche. Die Planung von Veranstaltungen und Kursen, die Betreuung der museumseigenen Veröffentlichungen, Kooperation mit der Kunstszene und der Politik, Fundraising – das alles war heute genauso wichtig wie ein kunstgeschichtliches Studium, vor allem angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage im Land. Auch auf diesen Gebieten konnte Weil mit ausgezeichneten Referenzen aufwarten. Sotheby’s war eine profitorientierte Aktiengesellschaft, und der finanzielle Erfolg unter der Ägide Tyler Weils wurde allgemein seinem Führungsgeschick zugeschrieben. Unter dem vorherigen Direktordes Metropolitan Museums of Art, so der Stiftungsrat bei der Darlegung der Gründe für seinen Vorschlag, wären außerordentliche Forschungsergebnisse erzielt worden, doch der Aufbau eines finanziellen Grundstocks und die Umsetzung des unternehmerischen Leitbilds wären zu kurz gekommen.
    Weil war mit knapper Mehrheit gewählt worden. Auf keinen Fall wollte er zum jetzigen Zeitpunkt, während er und das Museum sich noch aneinander gewöhnten, eine Feuerprobe bewältigen müssen. Doch das zerstörte Gemälde im Museum könnte in Windeseile zu einem Skandal eskalieren.
    „Oh mein Gott!“ Marie Grimshaw war hereingekommen und hatte das zerstörte Bild auf dem Tisch entdeckt. Die zweiundsiebzigjährige, Respekt einflößende Dame war bei den Mitarbeitern sehr beliebt. Sie galt als führende Koryphäe auf ihrem Gebiet und hatte ein halbes Dutzend Standardwerke über Künstler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verfasst. Normalerweise war sie es, die den anderen in Krisen beistand, doch Weil sah, wie blass sie geworden war. Dieses Mal würde sie die Unterstützung der anderen brauchen.
    „Es tut mir leid, Marie. Ich hätte Sie vorwarnen sollen.“
    Sie wischte seine Entschuldigung mit einer Handbewegung weg. „Ich werd’s schon überleben. Das Bild allerdings nicht.“
    „Ich wollte, dass Sie es gleich sehen.“
    Sie wandte sich ihm zu. „Wissen Sie überhaupt, um welches Gemälde es sich handelt, Tyler?“
    „Es ist offensichtlich ein Matisse – oder zumindest von jemandem gemalt, der seinen Stil imitiert. So wie das Bild

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