Der Visionist
dort … zurückgelassen. Das habe ich getan! Können Sie sich vorstellen, wie man mit so einer Schuld leben kann?“
Ja, das kann ich , wollte Lucian sagen.
Jacobs öffnete die Augen und schaute ihn an. Ein überraschter Ausdruck glitt über sein Gesicht. „Sie wären auch fast gestorben an diesem Tag, nicht?“ Er sprach in einem Ton, als fiele ihm dieser Teil der Geschichte eben jetzt wieder ein.
Lucian nickte.
„Ich wünschte, Sie wären gestorben. Ich wünschte, Sie wären ermordet worden, und meine Tochter würde noch leben.“
Lucian wandte sich ab, ging die wenigen Schritte zur Tür, öffnete sie und verließ das Zimmer. Manchmal, wahrscheinlich zu oft, hatte er sich das auch schon gewünscht.
„Möchten Sie ein Glas Wein?“ Emeline saß an dem Spieltisch vor den Fenstern. Sie hielt ihm das Glas hin, als biete sie ihm etwas Wertvolleres an als Wein. Genau wie sie leuchtete die rote Flüssigkeit im Licht des Sonnenuntergangs.
„Es ist schon nach fünf“, sagte sie, als könne sie seine Gedanken lesen. „Sie dürfen Feierabend machen. Und ich würdeSie gerne ein paar Dinge fragen. Über meinen Vater. Und über Solange. Ich möchte mehr über sie erfahren. Niemand hat mir erzählt, was für eine Frau sie wirklich war. Mir kommt es so vor, als hätte ich mein ganzes Leben im Schatten eines Geists gelebt. Bitte bleiben Sie, Lucian.“
„Ich würde wirklich gerne bleiben, aber ich muss zurück ins Büro. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen“, erwiderte er. Vielleicht war er bei seinen letzten Worten ein wenig zu kurz angebunden. „Ich finde den Weg hinaus allein.“
27. KAPITEL
Nina Keyes saß neben ihrer Enkelin auf einer hölzernen Bank im Foyer des Metropolitan Museums of Art. Das kleine Mädchen hatte die Arme um sich geschlungen, sein Oberkörper schwankte vor und zurück. Tränen liefen ihm übers Gesicht.
Malachai Samuels saß auf der anderen Seite von Veronica und sprach leise mit ihr. Sie war in Sicherheit und nicht allein, sie brauchte keine Angst mehr zu haben. Immer wieder sagte er ihr das.
Er war im Büro gewesen, obwohl es Samstag war, und hatte Nina Keyes’ Anruf selbst entgegengenommen. Sie hatte hysterisch geklungen und ihn gebeten, sofort ins Met zu kommen. Ihre Enkelin brauche seine Hilfe. Seit zehn Minuten saß er nun schon hier und redete auf das Mädchen ein, aber es reagierte nicht auf ihn. Veronica befand sich in einer tiefen Trance, in der sie ihn offenbar nicht hören konnte.
„Wir sollten sie wegbringen von all den Leuten hier“, sagte Nina. Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit.
„Nicht, während sie eine spontane Regression durchlebt.“
„Machen Sie, dass es aufhört.“
„Davon rate ich ab. Das könnte der Durchbruch für Veronica sein.“
„Aber sie hat Schmerzen.“
„Ja, aber es kann ihr nicht wirklich etwas passieren. Das verspreche ich Ihnen. Wir sind hier bei ihr.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Veronica zu. „Sag mir, was dir fehlt. Was siehst du?“
Das kleine Mädchen schien seine Stimme nicht zu hören.
„Veronica, du bist in Sicherheit. Auch deiner Großmutter geht es gut. Ich möchte, dass du das weißt. Dir kann nichts geschehen, du bist ganz sicher. Niemand kann dir Schaden zufügen.“
Veronica hörte nicht auf zu weinen, und sie gab leise wimmerndeLaute von sich. Ob sie an Schmerzen litt oder seelische Qualen durchlebte, war nicht zu sagen.
„Wir sind gerade rüber zu der Haupttreppe gegangen, da hat Veronica meine Hand genommen und angefangen zu weinen“, sagte Nina. „Sie hat immer nur gesagt, es sei dunkel und dass ich bei ihr bleiben soll. Ich konnte sie einfach nicht mehr beruhigen.“
„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, das die Regression ausgelöst haben könnte?“
Nina schüttelte den Kopf und sah sich in dem weitläufigen, prachtvollen Foyer um. Malachai folgte ihrem Blick über die riesigen Blumenarrangements, die Menschenmenge, die blau uniformierten Museumswärter und schließlich die vier Fahnen, die über dem Eingang flatterten, eine für jede der aktuellen Sonderausstellungen: Vuillard’s Interieurs, Ägyptische Juwelen, Illusion in der zeitgenössischen Fotografie und Schätze der persischen Kachelkeramik.
„Ich habe nichts bemerkt, tut mir leid. Können Sie ihr nicht helfen?“
Malachai wandte sich wieder zu dem Kind. „Du bist in Sicherheit, Veronica“, sagte er leise. „Du bist hier in New York mit deiner Großmutter. Sie wird nicht zulassen, dass dir irgendetwas
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