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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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glauben wollen. Er hielt sie für ein Märchen. Sein Großvater hatte ihn mit einem Lächeln aufgefordert, die Familienlegende zu widerlegen. Am nächsten Tag räumten Hosch und zwei seiner Brüder zweiundzwanzig Steine weg. Doch als sie am darauf folgenden Tag wieder in die Gruft hinabstiegen, war alles verschüttet, und die Wand reichte zwei Fuß weiter in den Gang hinein als zuvor.
    Doch nun war Hoschs Großvater schon lange tot, und ein französischer Archäologe hatte die Wand schließlich doch von der anderen Seite her durchbrochen. Vor drei Tagen hatte er vor ihrer Tür gestanden. Er hatte Hosch in erstaunlich flüssigem Farsi aufgefordert, ihm durch das Haus Zugang zu der Gruft zu gewähren. Auf diesem Weg wäre es einfacher, die antiken Schätze zu bergen.
    Sie sollten ihn freiwillig hereinlassen, damit er ihre Schätze stehlen konnte? Hosch hatte sich geweigert. Die Höhle und alles, was sich in ihr befand, war das Eigentum seiner Familie. Der Archäologe durfte die Gruft gar nicht betreten.
    Der Franzose zeigte ihm ein offizielles Schreiben des Kulturministeriums auf dickem Pergament. Darin wurde ihm das Recht verliehen, Ausgrabungen in der Höhle vorzunehmen. In den Dokumenten war auch festgehalten, dass er fünfzigProzent von allem, was er bei den Ausgrabungen fand, als Lohn behalten durfte. Hosch zerriss die Papiere und schleuderte dem Mann die Fetzen ins Gesicht.
    „Was kümmert mich euer Teilungssystem?“, schrie er. „Die Höhle gehört nicht der Regierung, deshalb kann die Regierung auch nicht teilen, was sich darin befindet.“
    In den folgenden Tagen und Nächten hatten Hosch und seine Söhne die Steinwand verstärkt. Doch an diesem Nachmittag, während sie in der Synagoge den Sabbat feierten, waren der Archäologe und seine Gehilfen wieder in die Gruft eingebrochen.
    Ihre Söhne waren im Schtetl unterwegs, sie trommelten Männer zusammen, die ihnen helfen sollten, die Räuber abzuwehren. Bibi wollte nur, dass Hosch wartete, bis sie zurückkamen. Unten in der Höhle waren die Räuber schon zugange, aber was machte es denn, wenn der Archäologe und seine Gehilfen ein oder zwei Stücke hinaustrugen? Was war eine Schüssel oder ein Armreif im Vergleich zu Hoschs Leben? Aber ihr Ehemann war ein sturer Mann.
    Sie bat ihn noch einmal zu warten, doch Hosch nahm das Messer zwischen die Zähne und griff nach der Laterne. Er ging die alten Stufen hinab, dann kletterte er auf der Leiter, die schon seine Vorfahren benutzt hatten, tiefer hinunter in die Gruft. Die Sprossen ächzten unter seinem Gewicht. Als sie ihn nicht mehr sehen konnte, zählte Bibi bis zehn. Dann raffte sie ihre Röcke, steckte sie im Bund fest und folgte ihm in die Dunkelheit.
    Sie drückte sich an die kantigen Felswände und hielt sich in den langen Schatten, die die Laterne warf. Aus ihrem Versteck beobachtete sie, wie ihr Mann sich dem Archäologen in den Weg stellte. Der Franzose war nicht allein. Bibi zählte zehn junge Perser. Sie hatten sich durch das Geröll der Wand gekämpft und waren schmutzig, ihre Gesichter glänzten vor Schweiß. Jeder war mit einem Messer bewaffnet, das in demschwachen Licht der Grubenlaternen glitzerte. Dabei brauchten sie gar keine Waffen. Jeder der Männer konnte es mit bloßen Händen mit Hosch aufnehmen. Warum wollte ihr Mann das nicht einsehen? Warum riskierte er so viel für diese Dinge?
    „Sie befinden sich auf meinem Grundstück!“ Hosch drohte ihnen mit der geballten Faust. Die sinnlose, kindische Geste brach Bibi fast das Herz. „Verschwinden Sie, oder ich lasse Sie alle wegen Grabräuberei festnehmen! Meine Söhne sind mit Hilfe unterwegs hierher. Sie bringen das ganze Ghetto mit. Wenn Sie nicht verschwinden, wird es Verletzte geben.“
    Der Archäologe hielt ihm wieder einen Stapel offiziell aussehender Dokumente hin. Sie sahen aus wie das Schreiben, das Hosch vor ein paar Tagen zerrissen hatte. „Ich habe die Genehmigung, hier Ausgrabungen zu machen.“
    Hosch schlug die Papiere aus der Hand des Eindringlings. Die Blätter landeten in einem wirren Mosaik auf dem Erdboden. „Das ist mein Grundstück, und ich befehle Ihnen, zu gehen! Ihnen allen.“
    „ Sie sind hier der Dieb!“, sagte der Franzose voll selbstgerechter Empörung. „Sie verstecken antike Schätze, die Persien, der Geschichte und der ganzen Menschheit gehören.“
    Hosch lachte bitter auf. „Tun Sie doch nicht so, als würden Sie die Schätze für das Wohl der ganzen Menschheit stehlen! Sie werden sie für teures Geld

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