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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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passiert.“
    „Es geht nicht um mich“, flüsterte das Kind mit zitternder Stimme. „Es geht um Hosch.“
    „Wer ist Hosch?“
    „Es geht nicht um mich, sondern um Hosch. Ich muss Hosch retten.“

28. KAPITEL
    Schusch, Persien, 1885
    Bibi sah zu, wie ihr Mann die Klinge aus der Scheide zog. Seine Hand zitterte. Sie wusste, dass er keine Angst hatte, er war nur alt. Der Schein der Laterne spiegelte sich auf der scharfen Klinge wie der Teufel, der am Rand der Hölle ein Tänzchen tanzt. Bibi war keine Hexe und hatte noch nie in ihrem Leben Vorahnungen gehabt. Doch bei ihrem nächsten Atemzug hatte sie mit einem Mal das Gefühl, dass der Tod in der Luft lag.
    Sie trat näher zu ihrem Mann und ergriff sein Handgelenk. Ihre scharfen Nägel bohrten sich in seine papierdünne Haut. „Es sind doch nur Dinge … nutzlose Münzen und Töpfe. Wen kümmert es schon, wenn sie verloren sind? Wir beten keine Götzenbilder an, und doch setzt du dein Leben aufs Spiel, nur um diese Statue zu retten.“
    „All diese Dinge gehören seit Jahrhunderten meiner Familie.“ Er versuchte, seine Hand aus ihrem Griff zu lösen. „Lass mich los.“
    „Erst musst du mir versprechen, dass du nicht in den Keller gehst, bis Hilfe kommt.“
    „Das entscheidest nicht du, Weib“, sagte er so barsch, dass sie ihn losließ und vor ihm zurückwich, als wäre er ein Fremder.
    Sie deutete auf den Teil des Raums rechts vom Herd. „Gut. Dann geh. Verteidige dein Erbe.“ Ihre Stimme klang hart und abgeklärt, aber in ihren dunklen Augen glänzten Tränen.
    „Es ist das Einzige, was ich unseren Söhnen hinterlasse, und sie werden es an ihre Söhne weitergeben.“ Hosch strich mit den Fingerspitzen über ihr Haar. Hosch war alt und schwach, eine Krankheit höhlte ihn von innen aus. Aber er lächelte sie immer noch genauso an wie damals, als sie frisch verheiratet waren und sie ständig in Sorge gewesen war, wenner das Haus verließ und zum Tempel ging oder zum Markt. „Geh wieder schlafen, Bibi! Niemand wird heute Nacht sterben. Das verspreche ich dir.“
    Er nahm die Laterne vom Haken an der Wand, wandte sich um und humpelte durch den Raum. Sein verlängerter Schatten folgte ihm. Bibi trat schnell in seinen Schatten, und einen verrückten Moment lang war ihr, als könne sie ihn zurückhalten, wenn sie seinen Schatten nicht gehen ließ.
    Hosch ging an den krummen Holzregalen vorbei, in denen sie Lebensmittel aufbewahrten, und stellte sich auf die Ecke des kleinen, ausgefransten Teppichs. Er war aus tiefroten und königsblauen Fäden gewoben, aber von seiner früheren Pracht war nicht mehr viel zu sehen. Doch auch wenn der Teppich zerschlissen war, er verbarg noch gut, was sich unter ihm versteckte. Hosch rollte ihn zusammen und schob ihn zur Seite. Eine Falltür kam zum Vorschein.
    „Bitte bleib“, flüsterte Bibi, und sie konnte nicht anders, sie musste die Arme nach ihm ausstrecken, um ihn zurückzuhalten.
    Doch Hosch beachtete seine Frau nicht. Er öffnete die Falltür und leuchtete mit der Laterne auf die Stufen, die grob in Stein und Erde geschlagen worden waren. Bibi schreckte zurück. Sie hasste die Gruft unter ihrem Haus. Dort unten war es stockfinster, und es stank nach verfaulten Eiern. Die Höhle verzweigte sich tief in die Erde, angeblich konnte man auf den unterirdischen Wegen bis zum Meer gelangen. Aber das wusste niemand mit Gewissheit, denn am tiefsten Ende der Höhlengänge erhob sich eine dicke Wand aus Felsenbrocken.
    Bibi hatte die Legende um diese Wand schon vier Mal gehört. Hosch erzählte sie jedem ihrer Söhne am Tag ihrer Bar-Mizwa. Er begann immer auf dieselbe Weise: Diese Geschichte ist schon seit dreihundert Jahren in unserer Familie. Jeder Vater erzählt sie seinen Söhnen, damit diese sie ihren Söhnen weitererzählen.
    Die Wand, so erzählte er, war nicht immer da gewesen. Sie war über Nacht erschienen, nachdem die Schätze in der Gruft versteckt worden waren. Seine Vorfahren behaupteten, dass Gott selbst die Lawine ausgelöst habe, um das Erbe sicher zu verwahren und um zu verhindern, dass jemand die Schätze über den Eingang von der anderen Seite her entdeckte. Es hatte im Lauf der Zeit immer wieder Familienmitglieder gegeben, die neugierig waren und die Felsbrocken wegräumen wollten. Doch was immer sie am Tag wegschafften, stürzte in der folgenden Nacht ein und verschüttete den Eingang mit einer noch dickeren Wand als zuvor.
    Als Hosch die Geschichte mit dreizehn zum ersten Mal hörte, hatte er sie nicht

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