Der Visionist
an Sammler in Europa und Amerika verkaufen. Oder etwa nicht? Ich bin alt, aber kein Narr. Wir alle wissen, was mit den antiken Schätzen geschieht, die auf unserem Land ausgegraben werden.“
Bibis Mund war trocken, ihr Herz raste wie ein kleines Tier, das aus seinem Käfig wollte. Wenn Hosch doch nur auf sie gehört und diese Dinge schon längst verkauft hätte. Dann wäre er jetzt nicht in Gefahr, und ihre Söhne müssten nicht die Nachbarn zusammentrommeln für einen Kampf. Was hatten sie denn von den Töpfen und Kannen, dem Schmuck und den Statuen, die in der Höhle verborgen waren?
Da war ein Mann aus Holz, dem Flügel seitlich aus der Stirn wuchsen. In der einen Hand hielt er Mohnblumen, in der anderen ein Trinkhorn. Bibi war überzeugt, dass der Statue Böses anhaftete. Doch Hosch sagte, dass die Religion der Menschen, die diese Schätze geschaffen hatten, keine Rolle spielte. Die Dinge selbst waren wichtig, und zwar aus dem gleichen Grund, weshalb auch die Tora in der Synagoge wichtig war: Nicht nur wegen der Worte, die an jedem Sabbat daraus vorgelesen wurden, sondern wegen der Vergangenheit, die die Torarolle in die Gegenwart brachte und die sie eines Tages weiter in die Zukunft tragen würde.
„Geh mir endlich aus dem Weg, alter Mann!“, brüllte der Archäologe. Er verlor allmählich die Geduld.
Hosch rührte sich nicht vom Fleck. Nicht ein Muskel in seiner Hand und seinem Nacken zuckte. Er blinzelte nicht einmal.
„Zum letzten Mal – aus dem Weg!“
Hosch zog das Messer aus der Scheide.
„Ist dein Leben denn so wenig wert, dass du es für diese Dinge wegwerfen willst?“, fragte der Archäologe. Er klang nicht mehr so aggressiv, eher wie jemand, der mit einem Kind sprach.
Hosch antwortete nicht, und Bibi nahm an, dass er Zeit schinden wollte, bis ihre Söhne mit Hilfe kamen. Doch der Archäologe hatte keine Geduld mehr. Er winkte zwei seiner Gehilfen heran, die selbstbewusst vortraten. Sie waren jung und kräftig. Sie lachten leise, als sie sich Hosch näherten. Wenn nicht jetzt sofort Hilfe kam, dann war Bibis Ehemann verloren.
Hosch bewegte sich immer noch nicht von der Stelle.
„Hau endlich ab!“, rief der jüngere der beiden Gehilfen und stieß Hosch gegen die Wand. Der stürzte und landete auf seiner Hüfte. Er verzog schmerzhaft das Gesicht, und Bibi wäre am liebsten zu ihm gerannt. War er verletzt? Sie hofftees. Denn dann würde er liegen bleiben und sich nicht mehr wehren. Eine kleine Verletzung konnte seine Rettung sein.
Doch Hosch kam wieder auf die Beine. Einen Moment lang stand er wacklig da, dann stürzte er nach vorn. Er schlug mit der Klinge um sich und überraschte seinen Angreifer, den er leicht am Arm verletzte. Der Mann blickte einen Moment auf das tropfende Blut. Dann stieß er Hosch ohne zu zögern sein Messer zwischen die Rippen.
Bibi konnte das Gesicht ihres Mannes nicht sehen. Sie hörte nur sein leises, überraschtes Ach . Ein so kläglicher Laut war ihm noch nie über die Lippen gekommen, er war geschlagen und verletzt, Hosch brauchte sie. Bibi vergaß alle Gefahr und stürzte heraus aus dem Schatten und rannte zu ihm.
Nein. So viel Blut quoll aus seiner Brust. Sie begann zu jammern. Nein. Sein Gesicht war leblos. In seinen Augen war kein Funken Leben mehr. Nein. Ihr lang gezogener, ungläubiger Klageschrei hallte durch die Gruft. Nein!
Als ihre Söhne mit den Männern aus dem Ghetto endlich kamen, waren alle Schätze verschwunden. Die Höhle war leer bis auf die beiden Leichen, die wie auf einem Gemälde hingestreckt lagen: Hosch auf dem Rücken im Staub und Geröll, auf ihm seine gebrechliche Frau. Ihr Blut hatte sich vermischt und war unter ihnen zu einem schwarzroten Fleck geronnen.
29. KAPITEL
Es scheint mir unvorstellbar, dass ich nicht mehr existieren soll, oder dass dieser aktive, ruhelose Geist, der gleichermaßen Freude oder Kummer erleben kann, nur organisierter Staub sein soll – und in alle Winde zerstreut wird, kaum dass die Triebfeder bricht oder der Funke erlöscht, der alles zusammenhält. Gewiss wohnt etwas in diesem Herz, das unzerstörbar ist – und das Leben zu mehr macht als einem eitlen Traum.
… Mary Wollstonecraft, „Briefe“ –
„Ich schaue mir immer die echten Gemälde vorher noch einmal an, bevor ich mich in die Schlacht stürze. Das ist sehr hilfreich.“ Marie Grimshaw ging mit Lucian zu den Sälen, in denen die Impressionisten hingen. Die Kuratorin war peinlich darauf bedacht, dass sie ihm nicht zu nahe kam, obwohl
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