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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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Kind los – doch der Meister hatte den Moment mit realistischer Ehrlichkeit wiedergegeben.
    Neben ihm erzählte Marie, dass Van Gogh dieses Bild im Jahr 1890 gemalt hatte, als er sich in einer Nervenheilanstalt bei Saint-Rémy aufhielt. „Das Gemälde wurde nach einer Vorlage gemalt, der Radierung eines Bildes von Jean-FrançoisMillet. Seinem Bruder Theo hat Van Gogh geschrieben, dass er es für gerechtfertigt hielt, das Bild in Öl zu reproduzieren. Es war mehr wie eine Übersetzung des Schwarz-Weiß-Spiels von Licht und Schatten in eine andere Sprache – die der Farben.“
    Während sie sprach, wurde vor Lucians innerem Auge aus dem Vater Andre Jacobs, aus der Bäuerin Andres verstorbene Frau Martha und aus dem Kind Solange.
    Die nächsten vierzig Minuten beschäftigten sie sich mit Bildern der vier Künstler. Danach verließ Lucian das Museum. Draußen blickte er von der Granittreppe die Fifth Avenue entlang. Auf der einen Seite erstreckte sich ununterbrochen die Silhouette der Stadt, auf der anderen lag der grüne Park. Menschen saßen auf den Stufen, rauchten, telefonierten mit ihren Handys oder hörten Musik.
    Die Schmerztabletten hatten nichts genutzt, er hatte immer noch furchtbare Kopfschmerzen. Manchmal half frische Luft, wenn die Tabletten nicht wirkten. Lucian beschloss, kein Taxi nach Hause zu nehmen, sondern durch den Park Richtung Innenstadt zu spazieren.
    Ganze Legionen von New Yorkern nutzten den warmen Nachmittag für einen Ausflug ins wilde Grün mitten in der Stadt. Lucian schlenderte mitten unter ihnen auf den Wegen. Seine Kopfschmerzen ließen fast sofort nach, und er ging dankbar durch den vertrauten Park. Die Luft roch nach frischem Grün und sprießenden Blättern und Blumen, der typische Geruch des frühen Junis, wenn heiße Sommertage noch Zukunftsmusik waren. Lucian kannte jeden Pfad und Weg im Park, er konnte jede Richtung einschlagen, die er wollte. Er war in Manhattan aufgewachsen, und wie für die meisten City-Kids war der Central Park sein Spielplatz gewesen. Mit der Schule hatte er hier im Frühling Softball gespielt und Rugby im Sommer. Im Winter waren sie zum Eislaufen in den Park gekommen. Lucian hatte seinen ersten Joint auf dem Hügelüberm Bethesda-Brunnen geraucht, während eines Gewitters hatte er im Schloss Belvedere zum ersten Mal ein Mädchen ge küsst.
    An dem kleinen Teich blieb er stehen und schaute den Segelbooten zu. Hier war er immer mit seinem Vater hergekommen und hatte die reicheren Kinder um ihre teuren Boote beneidet. Sein eigenes hatte er selbst gebaut. Sein Vater hatte ihm dabei geholfen und ihm dann erlaubt, es so zu streichen, wie er wollte. Lucian hatte das Boot in Dutzenden von verrückten Farben angemalt. An die Segelboote, die er damals so gern gehabt hätte, konnte er sich nicht mehr erinnern, aber wie sein klobiges, wie ein Regenbogen schillerndes Schiff stolz über das Wasser glitt, hatte er nie vergessen.
    Ein kleiner Junge mit roten Haaren hatte sein Boot mit einem lauten Platschen ins Wasser fallen lassen. Er beobachtete mit angehaltenem Atem, wie es untertauchte und wieder hochkam, zu beiden Seiten schwankte, dann das Gleichgewicht wiederfand und sich aufrichtete. „Dad? Dad? Hast du das gesehen?“, rief er und blickte für einen Moment in Lucians Richtung.
    Lucian drehte sich nach dem Vater um, doch stattdessen erblickte er etwa drei Meter hinter sich Emeline Jacobs. Sie trug ausgewaschene Jeans und ein zu großes weißes Hemd, dessen Ärmel sie aufgerollt hatte, sodass man ihre zierlichen Handgelenke sah. Sie hatte ihn noch nicht entdeckt. Lucian fiel auf, wie jung sie wirkte, wie verletzlich. Es war ein seltsamer Zufall, dass sie sich hier über den Weg liefen. Oder doch nicht? Sie wohnte direkt am Central Park, und das Wetter war wundervoll. Wahrscheinlich machte sie einfach einen Spaziergang.
    „Daddy, hast du das gesehen?“
    „Ja, ich hab’s gesehen!“, antwortete ein Mann. Im selben Moment sah Emeline Lucian und rief seinen Namen.
    Hier, im Sonnenlicht beim Teich, mit wer weiß wie vielenMenschen um sie herum, löste der Anblick ihrer Lippen, als sie dieses eine Wort formten, eine Reaktion bei ihm aus, die ihn erstaunte – ein körperliches Verlangen, aber es war nicht zu vergleichen mit dem, was er normalerweise für Frauen empfand. Diese Begierde war besetzt mit Erinnerungen und einem Gefühl von Melancholie – und mit Angst. Er wollte Emeline in seine Arme nehmen und festhalten, er wollte sie beschützen und nie wieder von

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