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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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die sonntäglichen Besucherströme sie an den Rand des Gangs drückten.
    „Schlacht?“, fragte er.
    „Bei Echtheitsprüfungen sind die Gemälde selbst der Feind. Man muss sie bekämpfen und dazu zwingen, dass sie sich verraten. Nie darf man die Kontrolle aus der Hand geben und zulassen, dass sie einen überwältigen. Nur wenn man sie unterworfen hat, geben sie ihre Geheimnisse preis.“ Sie lachte nervös. „Jetzt halten Sie mich sicher für verrückt.“
    „Ganz und gar nicht. Sie haben da eine interessante Herangehensweise. Gefällt mir.“ Lucian hoffte, dass er den richtigen Ton erwischt hatte. Es war ihm unangenehm, dass Marie in seiner Gegenwart immer angespannt und fast misstrauisch ihm gegenüber erschien.
    Lucian war oben im Büro des Museumsdirektors gewesen. Der Mann, der die vier Meisterwerke gegen den Hypnos eintauschen wollte, würde Weil am Montag irgendwann zwischenneun und zwölf Uhr mittags kontaktieren. Das stand zumindest in dem Brief, der mit dem zerstörten Matisse in der Kiste gewesen war. Falls das Museum bereit sei, sich auf den Tausch einzulassen, würde man das weitere Vorgehen in diesem Anruf besprechen. Wenn es nach dem FBI ging, dann sollte Weil darauf bestehen, dass ein Sachverständiger des Museums die Gemälde sehen durfte, bevor sie sich auf irgendwelche Verhandlungen einließen. Lucian – als James Ryan, Kunstsachverständiger von Sotheby’s – würde diese Rolle übernehmen. Als sie mit den Vorbereitungen für den Anruf fertig waren, wollte Lucian sich eine Weile unten in den Ausstellungssälen bei den Van Goghs, Renoirs, Klimts und Monets aufhalten, um seine Erinnerungen an die Nuancen von Strich und Stil der Künstler aufzufrischen. Es war gut möglich, dass er direkt nach dem Anruf zur Identifikation der Gemälde aufgefordert wurde. Er hatte betont, dass er keinen Führer durch das Met brauchte. Aber Weil hatte es sich nicht nehmen lassen und Marie Grimshaw zu Hause angerufen und sie gebeten, für einige Stunden ins Museum zu kommen und Lucian zu unterstützen.
    Als sie ihn im Büro des Direktors stehen sah, reagierte sie fast so, als habe sie Angst vor ihm. Weil fiel ihr Verhalten auch auf, und er machte einen Witz, dass das FBI auf ihrer Seite stünde. Marie rang sich ein Lächeln ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann fragte sie Lucian, ob er bereit sei.
    Viel lieber hätte er sich die Bilder alleine angeschaut. Außer mit Solange war er nie gerne mit Begleitung durch ein Museum gegangen. Er hatte sein eigenes Tempo, und nur mit Solange hatte er dieses Tempo nicht ändern müssen.
    Im ersten Saal der Annenberg-Sammlung blieb Marie vor einem mittelgroßen Stillleben stehen. „Renoir hat keine Blume so sehr geliebt wie Rosen. Und er hat keine andere Blume so oft gemalt wie rote Rosen. Die Darstellungen in seinem Frühwerk waren subtil und nuancenreich. Aber als er das Bild aufder Fotografie und dieses hier malte, hatte er den feinsinnigen Ansatz verworfen. Stattdessen versuchte er, der Sinnlichkeit der Rose in einem ausdrucksstarken, expandierenden Stil gerecht zu werden. Sie können es an diesen kreisförmigen Pinselstrichen sehen und …“
    Lucian massierte seine Schläfen. Den ganzen Tag über war sein Kopfweh erträglich gewesen, doch jetzt schien der Schmerz in seinem Hirn förmlich zu explodieren. Er durchsuchte seine Tasche, fand die Schmerztabletten und nahm drei, die er ohne Wasser hinunterschluckte.
    „Ist Ihnen nicht gut?“, fragte Marie fürsorglich. Lucian verstand nicht, wie sie sich in seiner Gegenwart so unwohl fühlen konnte und ihm geradezu mit Argwohn begegnete und sich nun anscheinend doch um ihn sorgte.
    „Doch, doch. Kommen Sie, gehen wir weiter.“
    Marie lief einen halben Schritt vor ihm und führte ihn durch die ihm wohlbekannten Ausstellungsräume. Lucian besuchte das Met oft und schaute sich diese Bilder an, deren anmutige Schönheit ihn immer berührte. Er bedauerte es fast, als Marie vor Van Goghs Erste Schritte stehen blieb. Nur ungern schaute er sich eines seiner Lieblingsbilder zusammen mit ihr an. Die weichen Farben aus der Zeit des Künstlers in Arles hatten eine beruhigende Wirkung auf Lucian. Das wasserhelle Aqua, die Blautöne und das pastellfarbene Zitronengelb wirkten heiter, verglichen mit den Farben in Van Goghs dunkleren, stürmischeren Werken. Vom Thema her hätte es ein kitschiges Bild werden können – ein Vater breitet die Arme aus, als sein Kind die ersten Schritte auf ihn zumacht, die Mutter lässt das

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