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Der Vogelmann

Der Vogelmann

Titel: Der Vogelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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gesessen und leise gegluckst, als er ihren weichen Leib abtastete und
unter dem Sicherheitsgurt herumfummelte. Im Innern ihrer Lederjacke flatterte ihr Herz wie ein müder Vogel. Erst als er versuchte, ihren Rock zu heben, wehrte sie sich. Sie taumelte trunken aus dem Wagen, setzte sich stocksteif und mit verschmiertem Make-up auf den Gehweg und schob ihn weg, als er aus dem Wagen kletterte und sie zu berühren versuchte.
    »Nicht jetzt, ja?« murmelte sie. »Mir ist schlecht.«
    Er stand da und sah auf ihren aschblonden Kopf hinunter, ihre Strümpfe hatten Laufmaschen, und plötzlich beschloß er, sie nicht zu vergewaltigen.
    Einfach so.
    Dies war eine unerwartete Abweichung von seinem üblichen Vorgehen gewesen. Er brachte sie nach Hause und wünschte ihr eine gute Nacht. Einfach so. Als wäre es nichts . Als wäre es normal für ihn.
    Danach fühlte er sich tugendhaft, erhaben, von Licht erfüllt. Schnell entschied er, daß seine Großherzigkeit ein Ausdruck von Liebe war. Er begehrte sie so sehr, daß sein Kopf schmerzte, wenn er an sie dachte.
    Aber Joni wehrte seine Annäherungsversuche ab, sie wurde ärgerlich, wenn er zu ihren Auftritten im Pub erschien, und noch ärgerlicher, als sie hörte, er habe einen Job im St. Dunstan bekommen und das Erdgeschoß des Hauses einer alten Dame in Lewisham erworben, das weniger als eine Meile von ihrer Wohnung in Greenwich entfernt lag.
    Ihr Zorn schreckte ihn nicht ab, sie war sein Lebensinhalt. Seine Wohnung war ein Altar ihrer Verehrung, er fotografierte sie auf der Straße und spendierte ihr im Pub etwas zu trinken. Manchmal gewährte ihm Joni Momente der Freude. Manchmal rauchte oder trank sie so viel, daß sie nachgiebiger wurde und er sie nach Hause bringen durfte, wo sie sich im Gästebett ausschlief. Er berührte sie nicht. Nicht einmal. Das war nicht der Sinn der Sache. Der Sinn der Sache war, daß SIE zu IHM kam. In der quälenden Hoffnung, sie verstünde, wie sehr er sie liebte, hielt er seine Wohnung sauber, er versteckte seine geliebten
Bilder, falls sie über Nacht bliebe, er traf alle Vorkehrungen und versprühte Raumspray in der Wohnung, denn Joni liebte es, wenn alles angenehm duftete.
    Und schließlich kam sie tatsächlich und ließ alles auf resignierte, matte Weise über sich ergehen. Als Gegenleistung dafür lernte er, ihre gedankenlose, willkürliche Art der Untreue zu ertragen, ihre Flirts mit anderen Männern, ihre Weigerung, ihn zu berühren. Selbst als sie ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, an jenem Tag vor vier Jahren, als sie frisch von der Operation zurückkam und ihre neuen, aufgeblähten Brüste von ihrem Leib abstanden, war er ruhig und höflich geblieben. Es spielte keine Rolle, was Joni in der Gegenwart machte, in der dreidimensionalen Welt; weil sie in seiner Phantasie weiterlebte, wie sie damals in jener Nacht gewesen war, wie warm und biegsam, mit kleinen Brüsten und zarten Brustwarzen, als er sich an ihrem Atem gelabt hatte.
    In der Küche hatte einer der lädierten Zebrafinken inzwischen die Kraft gefunden, sich auf die Stange zu setzen. Er starrte ihn mit glänzenden kleinen Augen an. Er brummte und schüttelte den Käfig so heftig, bis der erschöpfte Vogel den Halt verlor und, zu verblüfft und ausgehungert, um zu flattern, herunterfiel. Schnaufend lag er auf der Seite und blinzelte ihn an, als er seinen Schokoriegel aufaß, die Verpackung zerknüllte und begann, sich anzukleiden.

43. KAPITEL
    D ie Tür wurde von einer Frau geöffnet, die tatsächlich eine bifokale Brille trug. Sie hatte kurzgeschnittenes graues Haar, große Hände und trug praktische Kleidung: eine Fair-Isle-Strickjacke, einen Tweedrock über den stämmigen englischen Hüften und feste braune Lederschuhe. Als Caffery seinen Durchsuchungsbefehl zückte und erklärte, daß sie an dem Nachbarn im oberen Stockwerk interessiert seien, schenkte sie ihnen ein sanftes, schiefes Lächeln und öffnete die Tür.
    »Wir wär’s mit einer Tasse Tee, meine Herren?«
    Sie gingen in den Flur, und Essex blieb ein bißchen zurück, da er immer noch nicht sicher war, ob er dieser Frau traute. Caffery blieb einen Moment stehen und starrte auf die zugemauerte Tür am Ende der Treppe. Er glitt mit dem Finger über das Geländer und drückte ihn an seine weiße Manschette. Nichts.
    »Ich weiß nicht, wie sie heißen«, sagte die Frau, aus einem der Räume herausrufend. »Das Paar dort oben.«
    »Das Paar ?« Jack drehte sich wieder um. »Sagten Sie, das Paar?«
    Also

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