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Der Vogelmann

Der Vogelmann

Titel: Der Vogelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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ein kleines schwarzes Samtkleid, eine schwarze Strumpfhose und Lackstiefelchen trug, schlüpfte aus der Bank, klammerte sich an Marilyns Beine und sah besorgt unter ihrem Haarschopf hervor. »Mami?«
    Zur Rechten von Marilyn saß Dean und zupfte am Kragen seines ersten Erwachsenenhemdes. Er war verlegen. Keiner konnte so tun, als sähe er die Tränen nicht, die das bestickte Betkissen zu Marilyns Füßen benetzten.

    Caffery erinnerte sich an das Gefühl; genauso wie Dean hatte er auf die Tränen seiner Mutter gestarrt, die unter dem Vorhang ihres Haars herabfielen, ihr Zittern gespürt, als sie betete, Gott anflehte, sie Ewan finden zu lassen.
    Es ist eine beschissene Ausrede, um sein Leben nicht leben zu müssen.
    Die Worte kamen mit solcher Klarheit, daß er seine Stirn berührte und die Hand aufs Gesicht legte, aus Sorge, die anderen könnten seinen Ausdruck bemerken.
    Du solltest inzwischen losgelassen, weitergelebt haben.
    Was ist das, dachte er, was haben sie alle auf ihre eigene Weise gesagt: die Frauen, die Freundinnen im Laufe der Jahre? Vielleicht war ihr Zorn berechtigt gewesen, vielleicht wußten sie besser als er, was man festhalten und was man loslassen sollte. Da saß er nun: dreißig Jahre alt. Dreißig Jahre war er alt und wußte immer noch nicht, wie man das Spiel spielte, das große, wichtige Spiel. Ganz so, als hätte er sein Leben nicht wirklich gelebt, sondern wäre dagesessen, hätte in die andere Richtung gestarrt, beobachtet, geplant, versucht, Verbesserungen vorzunehmen, versucht, die Vergangenheit festzuhalten, während sein Leben ohne sein Zutun ablief. Er konnte es so weiterlaufen lassen, fortfahren, sich daran aufzureiben, sich von Penderecki ködern lassen, ihm erlauben, neue Möglichkeiten zu finden, die Qualen frisch zu halten, und sich allein und kinderlos durchs Leben schleppen. Oder…
    Oder er konnte sich dazu entscheiden, den Kampf aufzunehmen.
    Als der Pfarrer mit dem Sterbegottesdienst begann, beugte sich Caffery, plötzlich beruhigt und leicht geduckt, nach vorn. Marilyn putzte sich die Nase und sah auf.
    »Was ist?« flüsterte sie und legte die Hand auf seinen Arm. »Was ist?«
    Er starrte in die Luft, als hätte sich aus dem Querschiff ein Geist ins Deckengewölbe erhoben.
    »Jack?«

    Nach einigen Sekunden klärte sich sein Gesicht. Er setzte sich in die Bank zurück und sah sie an.
    »Marilyn«, flüsterte er.
    »Was?« Er roch so sauber. Sie wartete, während ihr bedauernd all die kleinen Dinge des Lebens einfielen, die er ihr ins Bewußtsein rief. »Was ist?«
    »Nichts.« Er lächelte. »Etwas Verrücktes.«
     
    Nach dem Leichenschmaus fuhr er schnell durch das flache, sonnige Suffolk nach London zurück. Als er zu Hause ankam, war es früher Abend. Der Himmel über dem kleinen Reihenhaus war mit orangefarbenen Streifen durchzogen.
    Mehr als zwei Wochen war Jack nicht mehr in Ewans Zimmer gewesen; jetzt ging er ohne zu zögern hinein, warf alle leeren Akten in einen Müllsack, band ihn zu, trug ihn auf die Straße hinaus und warf ihn in die Abfalltonne. Er wischte sich die Hände ab, ging ins Haus zurück, zog sein Jackett aus, holte einen Schreinerhammer aus dem Schrank unter der Treppe und öffnete die Hintertür.
    Nun, da der Juli nahte, hatte der Garten seinen jahreszeitlichen Rhythmus gefunden. Von der sommerlichen Sonne erweckt, war er zu vollem Leben erblüht: Leuchtendbunte Blumen wuchsen in den Beeten, und die Klematis, die seine Mutter gepflanzt hatte und die jetzt zwanzig Jahre alt war, stand ruhig neben dem Zaun, ihre rosafarbenen Blüten entfalteten sich wie Babyhände. Jack duckte sich unter der Weide hindurch, ging direkt auf die alte Buche zu und warf den Hammer ins Gras.
    Mach es. MACH ES. Wenn du jetzt darüber nachdenkst, gerätst du wieder ins Schwanken.
    Er krempelte die Ärmel hoch, holte tief Luft, ergriff die niedrigste Planke und drückte sie gegen den Baum nach oben. Sie war schwach und morsch, löste sich fast wie von selbst vom Baum und ließ eine Wolke von Holzstaub auf seine Hemdbrust rieseln.
    Kein Zögern!

    Er trug das Brett ein paar Meter am Zaun entlang, warf es hinüber und ließ es ins dichte Unterholz fallen. Er wischte sich die Stirn ab, ging zu der Buche zurück und machte sich an die nächste Planke.
    Der Hammer lag unbenutzt im Gras, und die Schatten wurden lang. Bald waren seine Handflächen aufgeschürft, der Schweiß lief an ihm herab, sein Hemd war verdreckt, und eine einzelne Planke baumelte nun seitlich am Stamm

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