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Der Vogelmann

Der Vogelmann

Titel: Der Vogelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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nein.« Er schloß die Bücher und steckte die Brille in die Tasche. »Ich bin hier als Gastmediziner. Es geht um Sichelzellen. Ungewöhnlich hohes Vorkommen in Südostlondon.«
    »Wir haben uns bereits kennengelernt.«
    Cavendish wirkte verlegen. »Entschuldigen Sie. Wenn ich einen Fehler habe, dann den, mir keine Gesichter merken zu können. Ich bin kein Mensch, der in erster Linie von visuellen Eindrücken geleitet wird, eine Eigenart, die sich bei Mrs. Cavendish über die Jahre hinweg als sehr hilfreich erwiesen hat.«
    Caffery lächelte. »Wir sind uns vor etwa vier Monaten begegnet. Sie haben eine Freundin von mir nach einer Hodgkin-Erkrankung behandelt, eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt.«
    »Gut möglich, gut möglich. Um die Milz zu untersuchen.«
    »Wir sind Ihnen sehr dankbar.«
    »Danke. Wie macht sie sich?«
    »Nicht gut. Sie hatte einen Rückfall. Sie haben sie gestern nachmittag im Guys behandelt.«
    Cavendish kniff die Augen zusammen. »Ah ja, ich verstehe. Ich glaube, Sie verwechseln mich mit Dr. Bostall?«
    »Nein, Veronica Marks. Sie war gestern bei Ihnen.«
    »Nun ja. Ich kenne den Namen, aber ich habe sie…« Er
brach ab, schlug die Beine unter dem Tisch übereinander und öffnete sie dann wieder. »Sie werden verstehen, daß ich an die ärztliche Schweigepflicht gebunden bin. Selbst auf das Risiko hin, unhöflich zu erscheinen, sehe ich mich nicht in der Lage, über Patienten zu diskutieren.«
    »Aber Sie haben Sie gestern abend gesehen?«
    »Hmm.« Er öffnete das Buch und setzte die Brille auf. »Ich halte es für das beste, wenn wir diese Unterhaltung jetzt beenden, Mr ….?«
    »Caffery.« Caffery setzte sich mit klopfendem Herzen ihm gegenüber. »Dr. Cavendish, ich muß Sie etwas fragen.«
    »Lieber nicht. Sie bringen mich in eine peinliche Lage.«
    »Es bezieht sich auf keinen bestimmten Fall. Ich bin nur, ich bin fasziniert von einem der neuen Tests zur Diagnose von Hodgkin.«
    Cavendish sah auf. »Faszination ist gesund und unbedingt wünschenswert. Vor allem bei jungen Leuten.«
    »Es handelt sich um den Test mit dem Kontrastmittel.«
    »Nicht in bezug auf einen bestimmten Fall?«
    »Nein.«
    »Gallium oder Lymphangio?«
    »Derjenige, der an den Füßen eingebracht wird. Den man sehen kann.«
    »Das Lymphangiogramm. Es zeigt an, ob sich der Krebs in die unteren Körperregionen ausgebreitet hat. Meine Patienten gaben mir zu verstehen, daß es sich um eine unangenehme Prozedur handelt.«
    »Sie haben den Test in letzter Zeit nicht verändert? Sie führen kein anderes Kontrastmittel ein? Eines, das schneller verblaßt?«
    »Nein, nein. Es ist immer noch Leinsamenöl. Es dauert mehrere Tage, manchmal Wochen, bis es den Körper wieder verläßt.« Er strich sich mit dem Finger über die trockenen Lippen. »Mr. Caffery, wenn Sie wirklich daran interessiert sein sollten, verweise ich Sie auf einen Artikel über Vinblastin im British Medical Journal dieses Monats. Sehr interessant, zufälligerweise
von einem Kollegen verfaßt, aber meine Empfehlung ist von keinerlei Parteilichkeit geleitet.«
    »Danke.« Caffery streckte die Hand aus. »Ich glaube, Sie haben mir alles gesagt, was ich wissen muß.«

26. KAPITEL
    U m sieben Uhr abends war es windig geworden, die Böen trieben niedrig hängende, braune Wolken über den Himmel, und die Autofahrer klappten die Blenden vor der ständig wieder aufblitzenden abendlichen Sonne herunter.
    Caffery hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Dort wäre Veronica mit ihrer vorgespielten Blässe und Erschöpftheit, und er hatte Angst, was er ihr sagen – oder ihr antun könnte. Genausowenig wollte er ins Büro gehen, um erleben zu müssen, wie die Gespräche um ihn verstummten, weil er trotz allem einen Verlierer stützte und Gemini die Stange hielt, der sich jetzt gerade auf dem Weg zum Polizeirevier von Greenwich befand. Caffery wollte nur eines, nämlich Rebecca sehen. Als ihm die Ausrede dafür einfiel, hörte sie sich auf beruhigende Weise legitim an.
    Innerlich plötzlich erregt, setzte er Essex am Revier ab, kehrte um und begab sich wieder in den dichten Abendverkehr auf der Trafalgar Road. Bei Bugsby Way hörte der Regen so plötzlich auf, wie er angefangen hatte, und die Abendsonne machte einen letzten Versuch, die Erde zu trocknen. Glänzend lag sie auf der dick verschlammten Themse und warf lange Schatten auf die abblätternden Werbetafeln auf der anderen Straßenseite. Das einzige, was sich bewegte, waren weggeworfene Plastiktüten, die

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