Der Vogelmann
schrecklich. Ich habe etwas …« Sie drückte mit zwei Fingern die Nase zusammen und drehte den Kopf nach oben. »Aber nicht das. Das habe ich nicht erwartet.«
»Wie lange, glauben Sie, hat sie dort gelegen?«
»Ich weiß nicht. Ich habe keine Ahnung.«
»Wie lange, schätzen Sie?«
»Ich schätze, seit letzter Nacht. Aber das kann nicht stimmen, weil Harteveld zu dem Zeitpunkt schon tot war, oder? Seit gestern morgen?« Sie starrte mit ernsten braunen Augen auf die Zeitung. »Diese, diese Frau da draußen, sie hat doch etwas mit ihm zu tun, nicht wahr?«
»Warum glauben Sie, daß es letzte Nacht war?«
»Nun …«, sagte sie langsam und verwundert. »Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich bloß angenommen, ich hätte es gewußt, wenn eine Leiche in meiner Abfalltonne gelegen hätte.« Sie lachte über diesen absurden Einfall. »Aber wahrscheinlich stimmt das gar nicht. Ich meine, der Deckel war fest geschlossen, und wenn ich heute morgen den Abfall nicht rausgebracht hätte, wäre ich einfach daran vorbeigegangen und hätte nichts bemerkt.«
»Wann haben Sie das letzte Mal den Abfall rausgebracht?«
»Ich versuche, mich daran zu erinnern. Die Müllabfuhr kam am Montag. Mein Partner hat am Dienstag hier übernachtet, und wir haben ein paar Gläser getrunken. Es war mein Geburtstag. Also hatte ich einen Sack voller Geschenkpapier und Flaschen, so was eben. Ich dachte, ich hätte ihn letzte Nacht rausgebracht. Aber ich muß mich getäuscht haben, ich muß ihn gestern morgen rausgebracht haben.«
»Wo arbeiten Sie, Mrs. Velinor?«
»Im Dunstan-Krankenhaus.«
Caffery zog die Augenbrauen hoch. »Im St. Dunstan?«
»Ja. Warum?«
»Fällt Ihnen irgendein Grund ein, warum Mr. Harteveld Sie dafür ausgewählt haben könnte?«
»Mich ausgewählt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine, ich kannte ihn flüchtig, wir sind ein- oder zweimal im selben Krankenhauskomitee gewesen, er kannte einen meiner Kollegen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ich ihm mehr bedeutet habe als irgend jemand anders. Er wußte kaum, daß es mich gab.«
Als Caffery fertig war und zur Eingangstür kam, war die Abfalltonne mit dem Silberstaub bedeckt, der zur Abnahme von Fingerabdrücken benutzt wird, und lag umgekippt auf einer großen Plastikplane, die über den Weg gebreitet war. Vor der Öffnung kauerte Logan, der nun einen weißen Anzug und Stiefel trug. Neben ihm stand Fiona, die Hände auf die Knie gestützt: ihr Oberkörper steckte vollständig in der Tonne. Maddox stand vor dem Absperrbereich und sah mit ernstem Blick über seine weiße Maske hinweg.
Fiona kam ein Stückchen aus der Tonne heraus und sah zu Maddox auf. »Bingo!« sagte sie; ihre Stimme klang gedämpft unter der Maske. Sie beschrieb mit der Hand einen Kreis um den Kopf. »Sie hat die Male am Kopf. Holen wir sie raus.«
Caffery stand auf der Türschwelle, die Hände in die Taschen gesteckt. Sie waren nur etwa fünfhundert Meter von Rebeccas Wohnung entfernt. Vermutlich ging sie auf dem Weg ins Stadtzentrum am Ende dieser Straße vorbei. Wie seltsam die unsichtbare Vernetzung des Lebens doch ist, dachte er.
Fiona und Logan schoben die Hände unter die Hüften der Leiche. Die Art, wie sie aus dem Container gezogen wurde, erinnerte Caffery an eine Geburt; ihre Haut war fleckig und feucht, das Haar von glitschig faulem Schleim bedeckt, die Glieder baumelten lose. Sie rutschte ab und landete als feuchter Klumpen auf dem Tuch, ihr Kopf hing schlaff herunter. Der Polizist am Tor legte die Hand übers Gesicht und wandte sich ab. Die Gesichtszüge waren durch die Verwesung aufgeweicht, aber von der Türschwelle aus konnten die beiden Männer das vertraute Make-up auf Augen und Mund erkennen, ebenso die
kobaltblauen Nähte auf den Brüsten. Den gezackten Thoraxschnitt.
Fiona beugte sich dicht über das Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen, dann sah sie zu Maddox auf und zog die Maske ab.
»Ich glaube, da ist ein Muttermal über der Oberlippe.«
Maddox nickte, sein Gesicht spannte sich kaum merklich an. »Jackson. Das ist Peace Jackson.«
38. KAPITEL
D ie Malpens Street, die knapp hundert Meter von Lola Velinors Vorgarten entfernt lag, war ruhig und mit Bäumen gesäumt. Die edlen edwardianischen Häuser waren von der Straße zurückversetzt und hinter üppigen Gärten voller Linden, Jasmin und Hibiskus verborgen.
Kurz vor neun Uhr an diesem Abend bereitete Susan Lister in der Küche ihrer Untergeschoßwohnung, in der die Fenster offenstanden, um
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