Der Vollstrecker
Uhr, als er seinen Honda vor dem alten Apartmentblock in Montebello in East L. A. parkte. Er blieb noch kurz im Wagen sitzen, lieà den Kopf gegen die Lehne sinken und sah zu den blinkenden Lichtern auf, mit denen viele der Fenster geschmückt waren und die dem ansonsten eher anonym wirkenden Gebäude ein wenig Seele einhauchten. Anna hatte das Fenster ihrer Wohnung im ersten Stock mit künstlichem Schnee, blauen Lichtern und einem alten Rudolph-Kuscheltier dekoriert. Dessen Nase war im Lauf der Jahre zu einem hellen Pink verblichen, aber dieser Rudolph war das liebste Erinnerungsstück aus ihrer Kindheit. Sie hatte ihn geschenkt bekommen, als sie vier Jahre alt gewesen war.
Garcia hatte seine Frau vom Büro aus angerufen, um ihr zu sagen, dass er an diesem Abend pünktlich zum Essen zu Hause sein werde â eine Seltenheit in den letzten Tagen. Anna und Carlos waren seit der zwölften Klasse ein Paar, und er hätte sich keine verständnisvollere Frau wünschen können. Sie wusste, wie viel ihm seine Arbeit als Detective bedeutete. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie hart er auf dieses Ziel hingearbeitet hatte und wie sehr er in seinem Beruf aufging. Sie verstand auch die Verpflichtungen und die Opfer, die seine Arbeit von ihm forderte, und sie akzeptierte sie fraglos. Doch trotz aller Stärke und allem, was Garcia ihr versichert hatte, hatte Anna manchmal Angst. Angst, dass eines Nachts das Telefon klingelte und jemand ihr mitteilte, dass ihr Mann nicht nach Hause kommen würde. Angst, dass die Abscheulichkeiten, die Carlos Tag für Tag mit ansehen musste, ihn tief in seinem Innern veränderten. Ganz gleich wie gesund die Seele eines Menschen ist, irgendwann kann er die Grausamkeiten nicht mehr verarbeiten. Irgendwann kann er die psychischen Belastungen nicht länger ertragen, ohne sich emotional abzuschotten. Sie hatte irgendwo darüber gelesen und zweifelte nicht im Geringsten daran.
Anna saà auf ihrem blauen Sofa, als Garcia mit einem Strauà Blumen und einer Flasche WeiÃwein ins Wohnzimmer kam. Sie sah von dem Buch auf, das sie gerade las, und schenkte ihm ein warmes Willkommenslächeln â ein Lächeln, das ihm jedes Mal sein Herz höherschlagen lieà und ihm weiche Knie verursachte.
Er lächelte zurück.
Anna war nicht hübsch im landläufigen Sinne, hatte aber etwas Faszinierendes an sich. Ihre kurzen schwarzen Haare passten perfekt zu ihren leicht schräg stehenden haselnussbraunen Augen und dem herzförmigen, fein geschnittenen Gesicht. Sie hatte helle, zarte Haut und die schlanke, durchtrainierte Figur einer Highschool-Cheerleaderin.
»Blumen?« Sie legte das Buch auf den Wohnzimmertisch und stand auf. »Gibt es einen Anlass?«
Garcia blickte sie an, und Anna sah etwas Trauriges in seinen Augen aufflackern. »Keinen besonderen. Mir ist nur klargeworden, dass es schon eine ganze Weile her ist, dass ich dir Blumen mitgebracht habe. Ich weià ja, wie sehr du sie magst.«
Anna nahm ihm den Strauà ab und küsste ihn sanft. Sie überlegte kurz, ob sie ihn fragen sollte, ob wirklich alles in Ordnung war, wusste aber, dass sie dieselbe Antwort erhalten würde wie jedes Mal. Mit Carlos war immer alles in Ordnung. Egal was in seinem Kopf vorging, egal wie hart sein Tag gewesen war, er behelligte sie niemals mit seinen Problemen.
Um der Abneigung gegen gegrilltes Steak Rechnung zu tragen, die ihr Mann neuerdings entwickelt zu haben schien, hatte Anna eine Lasagne nach dem berühmten Rezept ihrer GroÃmutter zubereitet, und der Pinot Grigio, den Carlos mitgebracht hatte, passte ausgezeichnet dazu. Zum Nachtisch aÃen sie Obstsalat mit Vanilleeis, und als sie fertig waren, half er ihr beim Abräumen. In der Küche drehte er das heiÃe Wasser auf und begann mit dem Abwasch, während Anna an dem kleinen Tisch saà und ihren Wein austrank.
»Kann ich dich was fragen, Babe?«, meinte er irgendwann beiläufig, ohne sie dabei anzusehen.
»Klar.«
»Glaubst du, dass manche Menschen Dinge sehen können, die anderen Menschen zustoÃen, ohne dass sie selbst dabei sind?«
Sie runzelte die Stirn. »Was? Ich verstehe nicht ganz, was du meinst.«
Garcia war mit dem letzten Teller fertig, trocknete sich die Hände am geblümten Geschirrtuch ab und drehte sich zu seiner Frau um. »Na, du weiÃt schon. Manche Leute behaupten doch, dass sie Dinge sehen können. Dinge, die
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