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Der Vollzeitmann

Titel: Der Vollzeitmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Achim Achilles
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Otto hochbegabt war. Martin war da nicht so sicher.
    Nach seinem dritten Dinkelpop-Attentat hatte er seinen Sohn ins Kinderzimmer strafversetzt, wo Norbert immer noch schlummerte. »Sei bitte leise. Wenn du dich entschuldigen möchtest, kannst du jederzeit in die Küche kommen.« Während Otto wimmerte, blätterte Martin unruhig durch den Sonderteil »Senioren-Residenzen«, den Dorothea aus der Zeitung auf den Küchentisch geschüttelt hatte.
    Dieser Tisch solle das Zentrum der Familie sein, ein Ort von Frieden und Gemeinsamkeit, hatte Dorothea bestimmt,
nachdem sie das tonnenschwere Monstrum in einem Kloster in der Provence entdeckt und nach Berlin geschafft hatte. Alles musste immer eine Geschichte und ganz viel Bedeutung haben. Esoterische Wichtigkeitszumessung war Pflicht in ihrer Generation, der in Wirklichkeit fast alles scheißegal war.
    »Aggro war total abgesagt, außer bei Mädchen. Bei denen galt es als selbstbewusst, wenn sie einem Jungen mit der Blechschaufel den Scheitel nachzogen.«
    Doch Otto wollte weder Frieden noch Gemeinsamkeit. Offenbar spürte er, hochbegabt und sensibel wie er war, die spirituelle Aufladung der antiken Bretter und rebellierte unterbewusst dagegen, indem er Dinkelpops über das hölzerne Heiligtum schoss.
    Warum war es eigentlich plötzlich so still im Kinderzimmer? Martin wurde unruhig. Was wäre, wenn Otto sich an Norbert vergehen würde, so wie er es schon öfter getan hatte. Warum war dieses Kind nur so unglaublich aggressiv, wenn es sich nicht gerade ängstigte? Martin hatte kaum noch Lust, mit Otto auf den Spielplatz zu gehen, wo sich die modernen Großstadteltern gegenseitig ihre Kinder samt Ausstattung vorführten. Aggro war total abgesagt, außer bei Mädchen. Bei denen galt es als selbstbewusst, wenn sie einem Jungen mit der Blechschaufel den Scheitel nachzogen. Jungs verhielten sich korrekt, wenn sie ihre Bar-bie kämmten. Deswegen funktionierte auch das Mann-Frau-Spiel
nicht mehr. Man spielte nicht mehr mit- oder gegeneinander, sondern jeder für sich. Es gab ganz viele Geschlechter- und Lebensentwürfe, nicht mehr Mann und Frau, sondern nur noch Hybride wie Tokio Hotel.
    Martin ging ins Kinderzimmer. Norbert schlief immer noch. Aber Otto hatte begonnen, jedem Einzelnen seiner zahlreichen Playmobil-Männchen ein Bein zu amputieren. Er hatte eine ziemlich schlaue Bieg-und-Brech-Technik entwickelt, der auch das härteste Plastik nicht standhielt.
    Martin war immer gegen Playmobil-Figuren gewesen, da sie die Phantasie des Kindes viel zu stark determinierten. Er hatte in der Kita sogar versucht, einen Playmobil-Bann durchzusetzen. Etwa ein Drittel der Mütter hatten sich ihm angeschlossen, leider nur Frauen mit Blumenröcken, Gesundheitsschuhen oder Zöpfen. In der Kita gab es entweder Trümmer- oder Karrierefrauen. Beide machten Martin Angst. Vor allem fürchtete er sich vor dem allmonatlichen Elterngespräch, das ihn an diesem Vormittag erwartete. Otto hatte in den letzten vier Wochen alles getan, ihn zu quälen, das stand mal fest.
    Martin schwieg verzweifelt, als er das Playmobil-Massaker sah. Otto hatte soeben Spielzeug im Wert von geschätzten hundert Euro zerstört. Voller Trauer sah Martin, dass auch seine Lieblingsfigur unter den Opfern war, ein ägyptischer Wagenlenker. Otto hatte den Köcher für die Pfeile, den prächtigen Kopfschmuck und den Flitzebogen zerkaut. Sein Sohn war ein Monstrum.
    Der Junge saß auf dem Boden und sah ihn erwartungsvoll an. Fürchtete er Strafe? Oder freute er sich, dass überhaupt eine elterliche Reaktion erfolgte?
    Martin ging im Geiste alle Erziehungsberater durch: Was hätte der Tyrannen-Experte jetzt gemacht? Und wie hätte Axel Hacke reagiert? Martin hätte seinem Sohn am liebsten
eine gescheuert. Diese schöne und bewährte Erziehungsmethode war trotz allem Retro-Wahn leider noch nicht wiederentdeckt worden. Zu schade.
    »Warum hast du deinen Männern wehgetan?«, fragte Martin. Er sagte »Männer«, weil Otto sich gern als Piratenkapitän oder Ritteranführer sah und Martin an sein Verantwortungsbewusstsein appellieren wollte.
    »Tut gar nicht weh«, entgegnete Otto.
    »Jetzt können sie aber nicht mehr stehen«, sagte Martin.
    »Doch, guck!«, antwortete Otto und schob zwei Legosteine als Stütze unter eine Playmobil-Figur.
    »Mir gefällt das gar nicht, dass du die Figuren kaputt machst«, sagte Martin. Ein Perspektivwechsel, da es auf der sachlichen Ebene kein Vorankommen gab. Jetzt eher die

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