Der Wachsmann
schauten verdutzt, was dem gelehrten Mönch ein warmes, volltönendes Lachen entlockte.
»Ich wollte Euch nicht verwirren«, fuhr er entschuldigend fort, »sondern nur zum Ausdruck bringen, daß dies Thema unendlich und schier unerschöpflich ist. Was natürlich so auch wieder nicht stimmt, denn manche unserer geschätzten Mitbrüder, insonderheit unser sogenannter Heiliger Vater oder die geifernden Nachfolger ihres mißverstandenen Dominikus, haben oft rasch ein Urteil zur Hand und geben die Früchte ihres verworrenen Denkens als göttlichen Ratschluß aus.«
Bruder Servatius las den Zweifel auf Peters Stirn und fügte erklärend hinzu: »Was ich damit sagen möchte, ist dies: Wir alle bitten zu Recht um einen starken Glauben. Doch wo die glaubende Gewißheit sich mit Ausschließlichkeit paart, da wird sie unerbittlich, unduldsam und leider allzuoft auch tödlich grausam. Ihr sollt wissen, daß ich meine Einsichten nicht für absolut nehme, daß ich die Wahrheit zwar suche, sie aber nicht für ein Schwert halte, mit dem es unter Andersdenkenden oder den Heiden zu wüten gilt. Schätzen wir den kleinen Zweifel, meine Freunde! So wie der ehrenwerte Johannes von Salisbury in seiner Liste der dubitalia von den Dingen spricht, über die ein kluger Mensch durchaus Zweifel hegen darf.«
Peter hätte im Augenblick ein klares Wort mehr geschätzt als ein Plädoyer für den Zweifel. Doch Paul fühlte sich, wiewohl er nicht alles verstand, dem Mönch gleichsam aus dem Bauch heraus verbunden. Das schien einer zu sein, der nicht den wütenden Mahner spielte wie Gottschalk, der nicht von der Kanzel herab hetzte, wie so viele angeblich gottgefällige Eiferer. Und er verzieh ihm gnädig die Ablehnung des Trunks. Es konnte ja mit ihm noch werden.
»Bei dem Mord an Leonhart, dem Flößer«, präzisierte Peter nun seine Frage, »da hing neben der Leiche ein Wachsmann im Busch, dem Nägel ins Herz und in die Augen getrieben waren. Habt Ihr dafür eine Erklärung?«
»Ich denke, die Geschichte ist beinahe so alt wie die Welt, und fast nimmt es wunder, daß nicht schon Kain sich des Mittels bediente, um seinen Bruder Abel zu ermorden. Die Menschen schufen sich zu allen Zeiten Götzen, und die Kirche hat nicht zu Unrecht auch den Zauber mittels Abbildern als delictum idolatriae verurteilt, verbrecherischen Götzendienst also. Das Verwerfliche darüber hinaus liegt in einer Inanspruchnahme dämonischer Hilfe und dem dadurch zugefügten Schaden und Leid. Es geht um Macht und Einflußnahme, gleich ob der Unhold sich verwehrte Liebe erschleichen oder Krankheit und Tod anhexen will. Und glaubet nicht, ihre Zahl sei gering! Daß nun der Wachsmann, von dem Ihr sprecht, an Augen und Herz durchbohrt war, bedeutet, daß Euer Freund an ebendiesen Teilen seines Körpers Schmerzen und Schaden erleiden sollte. Hat er denn darüber geklagt, daß die Kraft seines Augenlichtes nachlasse oder unerklärlicher Schmerz in seiner Brust tobe?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Peter, und auch Paul schüttelte verneinend den Kopf.
»Wie? Gar keine Klagen?«
»Nein. Zumindest nicht in unserer Gegenwart.«
»Merkwürdig. Der Tod erfolgt ja in aller Regel nicht subito et inopinato, gleichsam aus heiterem Himmel, sondern ihm gehen Leiden und Siechtum voraus. Einst vertrieb ein Fürst zwei Zauberinnen aus seinem Reich. Sie sannen auf Rache und spickten in grausiger Verkehrung eines Prinzips des Aristoteles, daß nämlich Ähnliches auch Ähnliches bewirke, eine Wachspuppe, die sie auf seinen Namen getauft hatten, mit unzähligen Nadeln. Sie taten dies aber nicht gleichzeitig, sondern über lange Zeit, und mit jedem Nadelstich fuhr dem Fürsten ein Schmerz in die Glieder wie von einem Dolch, und an jeder dieser Stellen brach ein stinkendes Geschwür auf. Sein Leiden fand erst ein Ende, als die bösartigen Weiber mitsamt ihrem teuflischen Götzen verbrannt waren. Und man sagt auch, daß die Unholde gerne die Puppen in das Geäst absterbender Bäume hängen, wo sie vom Wind bewegt werden. Und mit jedem Schaukeln überkommen den so Verfluchten Schwindel und Erbrechen. Ihr seht, der Zauber wirkt über große Distanz, und es erscheint mir seltsam, daß das corpus delicti gleich neben der Leiche gefunden wurde. Fast möchte man glauben, daß jemand nachträglich… nun ja, ich spekuliere bloß, und der Herr hat es mir nicht zur Aufgabe gemacht, dies herauszufinden.«
»Die Puppe wies noch zwei andere Löcher auf, in Höhe der Lenden.«
»Oder genauer gesagt,
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