Der Wachsmann
seiner Rüstung entkleidet, bis zuletzt nur noch sein Schild zu zerschlagen war. Und ebenso feierlich, wie einstmals während des Ritterschlags die heiligen Hymnen geklungen haben mögen, ließen die Priester nun den hundertachten Psalm ertönen, womit sie die entsetzlichsten Verwünschungen auf den Eidbrüchigen selbst, auf die Witwe und seine Nachkommen herunterriefen. So wie der Ritter sich vor seiner Weihe im Reinigungsbad geläutert hatte, wurde er nun mit Wasser übergössen, ihm gleichsam das Wasser der Reinigung schmählich vor die Füße geschüttet. Danach wurde er auf einer Leiter zum Hause seines Gottes geschleift, vor aller Augen mit einem Leichentuch bedeckt und nochmals mit Totengesängen bedacht, bevor ihn schließlich der Henker grausig richtete. Wie ich schon sagte: Ihr Christen versteht es, das Grauen zu inszenieren. Aber bitte, laßt Euch durch mein Geschwätz nicht davon abhalten, zuzugreifen, wiewohl ich mich für die Schlichtheit meiner Gaben schäme.«
Paul ließ sich nicht zweimal auffordern und streckte bereitwillig seinen Becher vor, um ihn erneut mit dem köstlichen Gewürzwein füllen zu lassen. Peter hatte bisher nur zaghaft in ein Gebäckstück gebissen und während der Rede des Juden trocken darauf herumgekaut. Nun griff auch er zu, während Isaak erläuterte, daß die runden Kuchen mit Nüssen und getrockneten Früchten bereitet und mit Kardamom gewürzt seien. Und er schob die Tellerchen mit getrockneten Datteln und Feigen vor.
»Früchte des Südens, die Ihr wahrscheinlich noch nicht gekostet habt.«
Isaak gönnte sich auch selbst einen Schluck Wein, lehnte sich wieder zurück und fuhr fort zu erzählen: »Auch in meinem Volk gibt es einen Gebrauch dieses eigenartigen hundertachten Psalms, was vielleicht Euch wie Zauberei vorkommen mag. Doch es verhält sich anders. Dazu müßt Ihr wissen, daß der geheiligte Name unseres Gottes für gewöhnlich nicht ausgesprochen wird, und daß viele Namen für ihn bestehen. Nach einer alten und weitgehend geheimen Überlieferung meines Volkes, welche wir Kabbala nennen, erschließen sich aus dem dritten göttlichen Namen in einem komplizierten Verfahren zweiundsiebzig Buchstaben, die ihrerseits wieder für zweiundsiebzig Namen stehen. Diese verkörpern aber nichts weniger als zweiundsiebzig erhabene Eigenschaften unseres Gottes, oder Genien, wenn Ihr so wollt, die wir beizeiten anrufen. Der Name des einundsiebzigsten Genius aber lautet Haiel, und er bedeutet: Gott, der Herr der Welt. Er ist hilfreich bei der Befreiung von unseren Unterdrückern und bewirkt die Überführung von Bösewichten und Verbrechern. Zu seiner Anrufung gebrauchen wir den hundertachten Psalm, jedoch nur den dreißigsten Vers, der da lautet: ›Den Herrn will ich mit meinem Munde überaus preisen und ihn inmitten vieler loben.‹ Nun urteilt selbst, ob es für Euch nach Fluch und Zauberei klingt.«
»Nipft naff einem Pfluch«, versicherte der mit vollen Backen kauende Peter und spuckte einen Schwall Brösel über den Tisch. Er schluckte erst ein paarmal kräftig, um nicht weiter wie ein Narr zu klingen und erklärte dann: »Aber merkwürdig ist es schon, denn beim Jakob, dem ersten Opfer, haben wir genau diesen Psalm gefunden, und wir rätseln schon die ganze Zeit über die Bedeutung. Nichts will so recht passen, und das eine widerspricht dem anderen. Dabei kam mir auch manchmal der Gedanke, daß jemand mit dem Psalm bewußt auf etwas hinweisen könnte, und nun spracht Ihr von Überführung eines Bösewichts mittels dieser Verse. Da frage ich mich doch…«
»…ob nicht einer von diesen Juden vielleicht…«, fiel Isaak ein.
»Nein, natürlich nicht!« wiegelte Peter eilig ab. »Aber seltsam ist immerhin, daß…«
»…daß der verfluchte Psalm nicht vollständig war und das Ganze dann keinen Sinn macht«, fiel diesmal Paul ins Wort.
»Nur der dreißigste Vers, ich weiß«, räumte Peter kleinlaut ein.
»Nehmt mir’s nicht übel«, wandte er sich erneut an Isaak, »aber Ihr erwähntet bei diesem Genius auch die Befreiung von Unterdrückern. Nun gibt es einige, die unseren König Ludwig als Usurpator beschimpfen, und es wurden auch Stimmen laut, die behaupteten, die Juden hätten vor, den König zu ermorden. Was sagt Ihr zu diesen Vorwürfen?«
»Warum sollten wir den König morden?« erklärte Isaak ganz ruhig. »Ludwig ist gut zu uns, und wir können uns nicht über ihn beklagen. Es erscheint mir – gelinde gesagt – höchst seltsam, den Königsmörder stets
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