Der Wachsmann
Zusammenhang wußte, der zwischen dem Anblick einer reschen Dirne und den Regungen seines Unterleibs bestand.
»Hm«, grübelte Isaak und strich sich wieder eine Weile den Bart. Plötzlich fuhr er auf, wies mit den Händen fahrig auf Süßigkeiten und Wein hin und forderte seine Gäste auf. »Bedient Euch und entschuldigt mich für einen Augenblick. Mir kommt da so eine Idee.«
Behende wie ein Jüngling, verschwand der Alte im Nebenraum. Noch ehe Paul den Wein zur Hälfte geleert und Peter die Datteln, die er sich flugs in den Mund gesteckt auch hinuntergeschluckt hatte, kehrte Isaak aufgeregt mit einem schweren Folianten zurück.
»Vor langer Zeit«, begann er, »erklärte Rabbi Joseph ben Jakob ben Zaddik, daß nichts in der Welt sei, das nicht seine Entsprechung im Menschen habe. Der sei so beschaffen, daß er in allem den Dingen des Universums gleiche: Wie im Großen, so im Kleinen. Des Allmächtigen wertvollstes Geschöpf als ›minor mundus‹, als Welt im Kleinen. Er nannte dies die Lehre vom Mikrokosmos, der ein getreues Abbild des großen, des Makrokosmos sei. Laßt uns doch einmal den Atzmann als ein Abbild im Kleinen betrachten.«
Die beiden Pfleger begriffen noch wenig von diesem abstrakten, allumfassenden Gedanken. Aber nun schlug Isaak das Buch auf.
»Ich habe hier eine Abschrift der Werke des Honorius von Regensburg«, erklärte der belesene Jude mit sichtbarem Stolz.
»Auch er begreift den Menschen als Abbild des Kosmos. In seiner formula totius orbis ähnelt der Himmel dem Haupt, aus dem zwei Augen wie Sonne und Mond leuchten. Die von Husten und Schnauben durchwirbelte Brust ist dem Luftraum vergleichbar, in dem Stürme und Gewitter toben. Die Füße tragen das Gewicht des Leibes wie die Erde jedwedes Ding auf ihr und so fort… Das Gehirn ist Sitz der Weisheit. Der Magen beheimatet die Kühnheit, die Milz das Lachen und die Galle den Zorn. Im Herzen aber sitzt das Wollen, in der Leber die Lust, unter den Nieren die Begierde, in den Lenden der erotische Kitzel und in den Genitalien schließlich die potentia generandi, die Zeugungskraft.«
»Im Herzen das Wollen, in den Genitalien die Potenz«, wiederholte Peter wie gebannt. »Das ist es!«
»Und die Augen?« beharrte Paul.
»Gehen wir doch von der Vorstellung aus«, schlug Isaak vor, »daß der Schadenzauberer oder die Hexe, die solches bewirken, sehr wahrscheinlich etwas auslöschen wollen. Der Dorn im Herzen nimmt den Willen, die Nägel in Lenden oder Genitalien die sexuelle Kraft. Betrachten wir nun die Augen als zwei Gestirne, so löscht die verderbliche Spitze ihr Leuchten aus. Zurück bleibt ein leerer, schwarzer Kreis, gleichsam ein Dunkelmond. Dieser aber gilt als Zeichen pervertierter Natur und entarteter Kräfte. Er steht für schwarzen Zauber und ist das Signum derer, die Giftmischerei betreiben und dadurch die Leibesfrucht austreiben oder gleich gar jegliche Fruchtbarkeit zunichte machen.«
»Ihr meint verbrecherische Wehfrauen?« schloß Paul.
»Bei David, nein! Das habe ich damit nicht gesagt«, verwahrte sich der Jude entsetzt. »Ich versuche nur den Sinn zu deuten. Alles andere ist nicht mein Geschäft.«
»Es klingt alles recht einleuchtend«, urteilte Peter anerkennend. »Nur will mir dabei nicht in den Kopf, was dies alles mit Leonhart zu tun haben soll. Denn wenn es um Verfehlungen des Leibes und ausschweifende Fleischeslust geht, dann müßte bei anderen schon dreimal der Atzmann im Geäst baumeln.«
Peter grinste frech in Pauls Richtung und schickte vertuschend hinterher: »Fast hätte ich doch vergessen, warum uns Bruder Servatius eigentlich an Euch verwiesen hat. Er sagte, Ihr seid Arzt und kennt Euch mit allerlei Pflanzen aus. Könntet Ihr uns wohl ein wenig über die Alraunwurzel vermitteln?«
»Gewiß«, versicherte Isaak, aber es war ihm anzumerken, daß er sich doch ein wenig wunderte, was die beiden so alles von ihm wissen wollten.
»Sie ist die merkwürdigste und kostbarste Pflanze, die ich kenne. Glaubt nicht die Ammenmärchen, daß sie unter dem Galgen wüchse, genährt vom Blut und Sperma der Gehängten. Und wenn Ihr hierzulande auf dem Markt die Vielgepriesene für teures Geld erworben habt, dann lacht sich vermutlich ein schlaues Bäuerlein ins Fäustchen, weil es für eine ordinäre Rübe ein fürstliches Zubrot erhalten hat. Die geheimnisvolle Pflanze will nur im Süden gedeihen, und ihre Gewinnung ist höchst gefährlich. Der Römer Josephus Flavius beschreibt, daß nur ein schwarzer Hund, der mit
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