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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
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aus den Reihen meines Volkes zu erwarten. Wurde nicht König Albrecht von Habsburg von seinem eigenen Neffen erdolcht? War es nicht ein Vorfahr aus dem Geschlecht der Wittelsbacher, dem auch Ludwig entstammt, der König Philipp von Schwaben erschlug? Ist es daher nicht eher so, daß fromme Christen ihren Glaubensbrüdern mißtrauen, aber aus Angst vor dieser Wahrheit das Schreckgespenst des mörderischen Juden verbreiten?«
    Isaak sprach dies ohne Hohn und Bitterkeit aus, aber seine Augen zeigten wieder diesen tiefgründigen Glanz. »Und noch eins zum Verhältnis der Juden zu ihrem König. Als weiland Richard Löwenherz, der strahlendste Ritter der Christenheit gekrönt wurde, da wagte es ein Häuflein Juden, sich zu nähern, um ihm Geschenke darzubieten. Da schrien welche aus der Menge, die schon im Kreuzzugsfieber raste: ›Die Juden wollen den König morden! Tötet sie!‹ Und so taten sie und hielten erst ein, als bis auf einige wenige alle Juden der Stadt erschlagen waren. Jahre später forderte der Kaiser für Richards Freilassung 150000 Silbermark Lösegeld, und Ihr dürft raten, wem die Ehre gebührte, einen Großteil der ungeheuren Summe aufzubringen.«
    »Hm«, brummelte Paul, »nicht daß ich an Euren Worten zweifeln möchte, ganz gewiß nicht. Aber da war auch die Rede davon, daß… nun ja, es gab ja auch in unserer Stadt solch bedauerliche Übergriffe, und nun sagen einige, ihr könntet dafür Rache wollen, wo doch all dies noch nicht lange her ist und unter dem Vater unseres jetzigen Königs geschah.«
    Isaak wurde nicht etwa böse. Ein nachsichtiges Lächeln umspielte seine Lippen, als er erklärte: »Ein weiser Mann meines Volkes, Salomon Ibn Gabirol, erstellte vor langer Zeit eine Sammlung von Sprichwörtern, die er Auserwählte Perlen nannte, und eine dieser Perlen lautet: ›Wie kann man sich am besten an seinem Feinde rächen? Nun, indem man seine eigenen guten Eigenschaften steigerte Wenn ich nicht irre, dann trifft sich dies gut mit den Worten Eures Meisters: ›Liebet eure Feinde! Tut Gutes denen, die euch hassen!‹ Ich behaupte gewiß nicht, daß es allen gegeben ist, das Wort des Dichters zu befolgen, so wie es auch nur wenigen Christen gelingt, nach der Forderung ihres Herrn zu leben. Aber was hätte es für einen Sinn, sich wieder in der Stadt niederzulassen und mühsam bescheidenen Wohlstand zu erwerben, um dann mit einem Schlage erneut alles zu verlieren nur um blutiger Rache willen?«
    Peter wollte den Argumenten des Judenmeisters gerne Glauben schenken. Aber der Traum der vergangenen Nacht kam ihm in den Sinn, und die Erwähnung der Kabbala rief plötzlich wieder vergessengeglaubte Erinnerungen in ihm wach. Zahlen wirbelten vor seinem geistigen Auge, und die unheilvollen Prophezeiungen über König Ludwig dröhnten in seinen Ohren.
    »Was ist mit Euch?« fragte der Jude besorgt. »Bekommt Euch das Gebäck nicht? Stößt Euch der Wein auf?« Isaak hatte sofort bemerkt, daß mit Peter etwas nicht stimmte. »Wollt Ihr Euch ein wenig niederlegen? Mein Haus steht Euch offen.«
    »Nein, nein«, wehrte Peter geschwind ab. »Es ist nur… wie soll ich sagen… es geht so vieles durcheinander in mir, und ich möchte noch tausend Fragen an Euch richten…«
    »Versucht es mit der ersten«, riet Isaak schmunzelnd, »und wir wollen sehen, wie weit wir kommen, bevor mich der Allmächtige abberuft.«
    »Ich traf vor nicht langer Zeit einen angeblichen Studiosus«, begann hierauf Peter, »der auch noch die Frechheit besaß, sich als Doktor des Rechts und Liebhaber der Mathematik auszugeben. Er faselte viel von Zahlen und Schicksalen, und ich bin überzeugt, daß das meiste schamlos gelogen war. Andererseits klang manches so einleuchtend und nachfühlbar, und er erwähnte dabei wiederholt die Kunst der Hebräer und berief sich auf ebendiese Kabbala, die Ihr zuvor erwähntet. Was mich aber geradezu schockierte, war, daß er beteuerte, des Königs Leben sei in Gefahr, und sein Schicksal sei noch für dieses Jahr besiegelt. Er belegte dies auf mehrerlei Weise und erschien dadurch in erschreckendem Maße glaubhaft. All seine Berechnungen und Manipulationen führten wieder und wieder zu der Zahl Neunzehn hin, die er somit als Unglückszahl unseres Königs festlegte. Nun frage ich Euch: Was hat dies zu bedeuten?«
    »Zunächst einmal, daß es von Übel ist, wenn einer sich anmaßt von Dingen zu reden, von denen er nichts versteht, und fremdes Gedankengut, zu dessen tiefer Wahrheit er geistig nie

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