Der Wachsmann
dafür tot. Sie preisen unsere Heilkunst und verbieten uns, sie auszuüben. Aber wenn ein Vornehmer erkrankt, dann werde ich nicht selten gerufen und schleiche durch die Hintertüre an sein Lager. Konzile erhoben dieses Verbot, aber als Papst Bonifaz VIII. an seinen Augen litt, da rief er Isaak ben Mordechai zu sich. Ihr seht, sie lieben uns auf ihre Art.«
Die letzte Bemerkung hatte ziemlich gallig geklungen. Isaak Goldstein lehnte sich zurück, schaute an Peter und Paul vorbei, als blicke er weit in die Ferne und sagte: »Ich will Euch meine Ansicht zu dieser merkwürdigen Beziehung sagen. Der Patriarch Henoch, den der Herr vor Urzeiten zum Schreiber der Wahrheit erkor, berichtet, daß Azazel einst ein mächtiger himmlischer Wächter war. Als nun der Schöpfer den Adam geschaffen hatte und ihn für ein großes Kunstwerk hielt, da stellte er ihn den himmlischen Hierarchien vor, damit sie sich vor ihm verneigten. Azazel aber verweigerte den Gruß, worauf der erzürnte Herr ihn mit seinen Scharen hinabstürzte in die Wüste, wo er seither voller Haß als Azazel-Satanas haust. Die einen sagen, sein Hochmut sei ihm zum Verhängnis geworden. Andere wieder sagen, Azazel habe den Schöpfergott so sehr geliebt, daß er sich einzig vor ihm verneigen wollte. So sei aus übergroßer Liebe Haß entstanden.
Am Versöhnungstag opferte der Hohepriester zwei Böcke, den einen davon im Tempel für den Herrn. Der andere wurde symbolisch mit den Sünden des ganzen Volkes beladen und in die Wüste getrieben, jenem Azazel-Satan entgegen, den sie für den Anstifter hielten. Das Tier hieß der Sündenbock und heutzutage spielt mein Volk selbst diese Rolle – für Euch. Und wenn es nicht wir Juden sind, dann sind es die Söhne des Islam oder irgendwelche Ketzer, die Gaukler oder Spielleute, Aussätzige und Verkrüppelte, oder wer immer andersgläubig und fremdartig ist. Dabei müßtet ihr Christen uns nicht einmal lieben. Es wäre schon genug, wenn ihr uns und unsere seltsamen Bräuche einfach nur achten würdet, wie es einige wenige tun.«
Es folgte eine Weile des Schweigens, ehe Peter sich räusperte.
»Nun ja, ich denke, wir sollten jetzt aufbrechen.« Er hatte eigentlich noch vorgehabt, den Alten nach möglichen Schulden der Pütrichs zu fragen. Aber es erschien ihm jetzt mehr als unpassend, und er hatte darüber hinaus das sichere Gefühl, daß er auch nur ein Kopfschütteln geerntet hätte.
Peter erhob sich und streckte dem Juden die Hand hin. »Habt Dank, Meister Isaak, für Eure Geduld und Euren Rat. Ihr habt uns in vielerlei Hinsicht geholfen und die Augen geöffnet. Wenn es gelingt, die Mörder zu fassen, dann trägt dies auch dazu bei, daß ihr wieder in Ruhe hier leben könnt.«
»Ich danke Euch«, erwiderte Isaak Goldstein und verneigte sich leicht. »Ich bin nur ein alter Mann mit Schrullen und Flausen. Aber wenn ich Euch in irgendeiner Weise behilflich sein konnte, dann habt Ihr mich dadurch geehrt. Geht in Frieden und bestellt Bruder Servatius einen Gruß!«
25. Kapitel
Es hatte schon während der Nacht zu regnen begonnen, und seither nieselte es unaufhörlich. Schmutziggraue Wolken verdunkelten den Himmel, und für einen Augusttag war es viel zu kalt. Überdies zählte man den dreizehnten Tag des Monats, wenngleich nicht gerade Freitag.
Peter war an diesem Morgen zu sehr mit sich beschäftigt, als daß er den Knechten an der Lände vernünftige Anweisungen gegeben hätte. Selbstvorwürfe plagten ihn. Er hätte nicht auf seinen triebhaften Freund hören sollen, hätte nicht einen Halbpfunder nach dem anderen leeren dürfen, hätte nicht… Ihm war sterbenselend zumute. Aber Paul hatte die ganze Zeit gestichelt, daß es nicht gut sei, sich ständig den Kopf zu zermartern. Und als er zu vorgerückter Stunde aufstehen wollte, da hatte Paul hinterhältig bemerkt, daß er wohl gleich wieder Alpträume bekäme, wenn er jetzt nur an die Alraune dächte. Aber das beste und schlechteste zugleich war der Umstand, daß auch die Agnes fast den gesamten Abend am Tisch verbrachte und ihm dabei recht nahe rückte. So war er sitzen geblieben Stunde um Stunde, als hätte er in einer klebrigen Pfütze Bier gesessen. Zwar hatte er danach den Schlaf eines Toten geschlafen, fühlte sich dafür aber an diesem Morgen wie ein lebender Leichnam.
Und was er am Vortag erfolgreich verdrängt hatte, das kehrte jetzt um so hartnäckiger wieder und quälte ihn in seinen Gedanken.
Was hatte es mit dem Atzmann denn nun tatsächlich auf
Weitere Kostenlose Bücher