Der Wachsmann
hochfliegenden Träume zerbersten. Im Bruchteil eines Augenblicks zogen die letzten Tage an ihm vorüber, sah er Gesichter: Die weinende Lies… die schlafenden Kinder… ein berechnender Kaufmann… ein grinsender Teufel…
»Neiiin!« Mit einem quälenden, langgezogenen Schrei fuhr er herum und sah eben noch eine wirbelnde Bewegung und herabsausenden Stahl. Die plötzliche, instinktive Drehung verhinderte zwar, daß ihm die Schneide von des Styrers Hacke den Schädel spaltete, aber der fürchterliche Hieb schmetterte ihn auf die Floßbäume. Er schlug hart an der Kante auf und rollte durch die Wucht vornüber ins Wasser, wo das Floß malmend und knirschend über ihn hinwegfuhr. Jakob versank in einem Strudel aus Isar und Ewigkeit.
3. Kapitel
Schon der Morgen des 29. Juni 1319 kündigte sich mit strahlendem Sonnenschein an. Es schien ein Wetter zu werden, wie es für einen Feiertag nicht schöner sein konnte. Kein Wölkchen trübte den Himmel über München, und die Bewohner der Stadt hätten sich unbeschwertem Feiern hingeben können, wenn sich nicht andernorts bereits drohendes Unheil zusammengebraut hätte.
Es war der Festtag der Apostelfürsten Peter und Paul, und da Münchens älteste Pfarrkirche zumindest dem einen der beiden geweiht war, war dieser Tag etwas Besonderes. Freilich gab es im Volk auch Stimmen, die ihn eher zu einem Unglückstag erklärten, denn – so ihre Ansicht – wo zwei regieren, da könne dies nicht gutgehen. Und der heftige Streit der herzoglichen Brüder während der vergangenen Jahre schien ihnen hierbei völlig recht zu geben.
Der Dekan von Sankt Peter las in der überfüllten Kirche eine feierliche Messe und hob in seiner kurzen Ansprache vor allem die Schlüsselgewalt Petri hervor, wobei er eigentlich die oberste Gewalt des Nachfolgers Petri in allen geistlichen und weltlichen Fragen unterstreichen wollte, was augenblicklich schon etwas verwegen war, wenn man bedachte, daß der Papst seit über zehn Jahren in Avignon im Exil residierte und dabei ganz dem Einfluß des französischen Königs ausgesetzt war.
Die einfachen Leute aber liebten ihre Apostelheiligen ganz einfach deshalb, weil diese in ihrem irdischen Dasein nur allzu menschlich gewesen waren. So konnte Petrus ein recht unbeherrschter Zornbinkel sein, der dem armen Knecht Malchus auf dem Ölberg einfach ein Ohr abschlug. Dafür verschlief er die Todesangst seines Herrn und verleugnete ihn mutig. Und Paulus war als Saulus erst ein rechter Christenfresser, bevor ihn der Herrgott vor den Kopf schlug und bekehrte. Bei soviel Vorbild und Gnade durfte es wohl auch anderen Sündern noch gelingen, sich ein Plätzchen im Paradies zu erwerben.
Nach dem Hochamt teilte sich die Gemeinde: Die Nachkommen Adams strebten mit einer Selbstverständlichkeit den Wirtshäusern zu, als wäre dies schon im Garten Eden der Brauch gewesen. Die Töchter Evas entsagten notgedrungen – und nicht ganz so selbstverständlich – einem längeren Schwatz und begaben sich an den heimischen Herd: die Vornehmeren, um das Gesinde zu überwachen, die weniger Begüterten, um eigenhändig Forellen und Weißfische – es war Freitag – zu braten, Gemüse zu garen und Knödel zu drehen. Selbst den Armen und Siechen bereitete man an diesem Tag vor St. Peter und im Heiliggeistspital ein großzügiges Mahl, das mehr enthielt als Hafergrütze und Dünnbier.
Eines der beliebtesten und meistbesuchten Wirtshäuser der Stadt – und davon gab es reichlich – war der Maenhartbräu im Tal Mariä, schräg gegenüber der Spitalkirche. Das hatte seinen Grund nicht etwa darin, daß er besonders prachtvoll oder gar vornehm gewesen wäre. Die Gaststube war eng und rußgeschwärzt, stinkend und verraucht wie anderswo und die Lautstärke eher noch gewaltiger. Aber das Haus hatte drei unschlagbare Trümpfe: eine hervorragende Lage, ein ausgezeichnetes Bier und eine ebensolche Wirtin. Die schwerbeladenen Salzkarren aus Reichenhall – an manchen Tagen bis zu zwanzig und mehr –, Kaufmannszüge aus Wasserburg, Bauern aus den Dörfern rechts der Isar, die mit ihren Feldfrüchten zum Markt drängten, sie alle kamen von der Isarbrücke herauf, betraten die Stadt durch das Tor beim Kaltenbach und standen kurz darauf vor dem Wirtshaus, aus dem von morgens bis abends fröhliche Zecher grölten und zum Verweilen einluden. Das Gasthaus war Treffpunkt, Erholungsstätte und Nachrichtenbörse in einem. Und es war Herberge und Stammtisch der Flößer, die mangels eines eigenen
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