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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
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der Psalterprobe unterziehen, da brach Entrüstung im Rest der ehrenwerten Familie aus.
    »Unerhört!« rief der Bruder des Alten. »Diesen Unsinn müssen wir uns nicht bieten lassen!«
    »Das ist doch lächerlich!« kreischte das treusorgende Eheweib des Kaufmanns. »Keiner von uns hat Schuld, was erlaubt Ihr Euch!«
    »Meine Tochter hat recht«, bestätigte sie der Rabenecker, dem plötzlich jeglicher Humor abhanden gekommen schien. »Was wollt Ihr mit diesem Hokuspokus? Verschont uns damit!«
    »Ihr enttäuscht mich«, entgegnete ihm Konrad Diener. »Hat Euch die Darbietung bislang nicht gefallen? Und Ihr, verehrte Frau Pütrich, Ihr müßtet doch frohlocken, oder sollte es Euch ungelegen kommen, daß Euer Gemahl entlastet ward?« Und wieder an den Rabenecker gerichtet: »Ich hatte Euch doch Kurzweil versprochen, und das beste kommt erst noch.«
    »Ich bezweifle doch sehr, daß das, was Ihr hier aufführt, rechtens ist«, protestierte Ludwig Pütrich. »Hat nicht die Kirche selbst solcherart Wahrheitsfindung als groben Unfug entlarvt und ihrerseits als Zauberei verdammt? Ward nicht diese Art des Gottesurteils verboten? Was erlaubt Ihr Euch dann hiermit?«
    »Hm, merkwürdig«, erwiderte der Richter mit zusammengekniffenen Augen, »daß Ihr Euch des Einwands erst entsinnt, nachdem Euer geschätzter Bruder der Prüfung unterzogen ward. Seid auch Ihr mit dem glücklichen Ausgang nicht zufrieden?«
    »Wieso? Natürlich! Ich meine… es geht mir mehr um etwas Grundsätzliches«, suchte sich Ludwig Pütrich zu rechtfertigen. »Wenn Ihr schon die Anklage der Zauberei erhebt, dann dürft Ihr Euch nicht selbst solch unfrommer und zweifelhafter Mittel bedienen!«
    »Was sagt ein Mann der Kirche dazu?« fragte Diener an Bruder Servatius gerichtet.
    »Er hat recht und wiederum auch nicht«, lautete die Antwort des Mönchs. »Es ist wahr, daß erst vor wenigen Jahren auf der Synode zu Trier der Erzbischof und Kurfürst Balduin den Mißbrauch des Psalters scharf verurteilt hat. Aber er tat dies in Sorge um das Ausufern von sortes und sortilegia, von Losorakeln und Wahrsagereien also. Andererseits wird wohl niemand bezweifeln, daß sich das Wort des Herrn im Buch der Bücher sowie im Psalter größter Wertschätzung bei der Wahrheitsfindung erfreut, sei es zur Bekräftigung und Besiegelung eines heiligen Eides, sei es als wirkmächtige Ermahnung, daß mit der Anwesenheit heiliger Schriften Gott selbst zu jeder Zeit gegenwärtig ist.
    Und beruht andererseits auf dem Prinzip von similis similibus, daß Ähnliches auch Ähnliches bewirke, nicht auch die Kraft des Heilens in der Medicina magica? Der Gelbsucht wehrten schon die Alten mit gelben Blüten. Warum also sollten wir nicht, da durch Psalmen großes Unheil über einzelne und die ganze Stadt kam, den Mißbrauch auch durch Psalmen bekämpfen? Und dieser Psalter eignet sich in hervorragender Weise hierzu. Darüber hinaus darf ich Euch auch versichern, daß der verehrte Abt meines Klosters seine Zustimmung erteilt hat.«
    »Ihr seht also«, ergriff der Richter wieder das Wort, »es besteht keinerlei Hindernis, und so Ihr die Probe verweigert, bringt mich dies zu der Annahme, daß Ihr entweder Vorbehalte gegen eine Schuldlosigkeit Eures Bruders habt oder Euch in irgendeiner Weise selbst vor der Wahrheit fürchtet.«
    »Ich? Aber wieso? Das ist doch…« Ludwig Pütrich lachte blechern wie eine falsch tönende Fanfare. »So ein Unsinn! Wovor sollte ich mich schon fürchten?«
    Der Richter enthielt sich jeglichen Kommentars, wies nur mit Bestimmtheit und klarer Geste auf das zwischen Paul und Servatius hängende Buch. »So tretet mutig vor!«
    Zögerlich und mißtrauisch, aber notgedrungen erhob sich Ludwig Pütrich und ging auf das Instrument der Wahrheitsfindung zu.
    Paul und Servatius wiederholten in aller Ruhe das Ritual:
    » Iustus es Domine … er ist schuldig… er ist es nicht…«
    Wieder starrten alle gebannt auf den Psalter und am eindringlichsten wohl der Prüfling selbst. Und plötzlich fuhr er zurück, kreidebleich. Birgit Pütrich stieß einen schrillen Schrei aus und schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. Heinrich Rabenecker schüttelte unwirsch den Kopf und zischte eine Verwünschung. Nur der alte Pütrich saß ganz ruhig, hielt erst die Augen auf den Psalter gerichtet und danach wortlos auf seinen jüngeren Bruder, als habe er es längst gewußt. Das Buch drehte sich entgegen dem Lauf der Sonne der Finsternis zu, so wie der Verdammte durch sein Tun ewiger Nacht

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