Der Wachsmann
entgegengeht.
»Das… das ist unmöglich«, stammelte der Beschuldigte, »das kann nicht sein! Was treibt Ihr hier für widerliches Gaukelspiel? Ihr habt falsch gehalten!« Er packte Paul am Ärmel und schüttelte erregt dessen Arm.
»Es hat alles seine Ordnung«, erwiderte Paul ganz ruhig.
»Nichts ist in Ordnung! Nichts!« brüllte der Kaufmann, während er nun Servatius bedrängte und ihn vor die Brust stieß.
»Diese Probe ist ungültig, falsch, lächerlich!«
»Sie hat bei Gott ihre Richtigkeit und ist gültig«, erklärte Servatius kühl.
»Sie kann es gar nicht sein«, verlor Pütrich die letzte Beherrschung. »Der Psalter ist unvollständig. Haha, so ein Unsinn! Ihr seid doch wirklich zu dumm, zu… dumm…«
Die letzten Worte waren kaum mehr hörbar, als Ludwig Pütrich stutzte und gewahr wurde, daß alle nur ihn anstarrten. Er fing an zu schwitzen, trat unruhig auf der Stelle, strich fahrig durchs Haar und wischte sich die feuchten Hände am Rock ab.
»Was glotzt Ihr so? Es fehlt… ich meine…«
»Meint Ihr dies hier?« fragte der Richter mit hochgezogenen Brauen und hielt plötzlich das initialengeschmückte Blatt eines Psalters in Händen, auf dem der hundertachte Psalm aufnotiert war.
»Äh… nun… ich hatte eben die Vermutung…«
»Nein!« unterbrach ihn Konrad Diener kaltlächelnd. »Ihr hattet die Gewißheit, während Euer Bruder von der Unversehrtheit des Psalters ausging und darauf vertraut hat. Dies hier ist das Blatt, das Ihr mir vor Wochen gebracht habt mit dem Hinweis, es könne der Aufklärung dienen. Das tut es nun, in der Tat. Aber nicht Konrad Peitinger hat Euch das Blatt übergeben. Ihr selbst habt es aus diesem ehrwürdigen Buch gerissen, was beweist, daß Ihr vor nichts zurückschreckt und daß Ihr sehr wohl Zugang zu dem Schränkchen hattet, sei es, weil Ihr den Mechanismus kanntet, sei es, weil Ihr es offen vorfandet. Und Ihr wart es auch, der den Einbruch verübt oder zumindest Dinge entwendet hat. Doch davon später. Ich beschuldige Euch hiermit des vielfachen Mordes, wofür Ihr Euch vor Gott und dem Gericht dieser Stadt zu verantworten habt.«
Ludwig Pütrich war noch immer bleich wie der Tod, aber seine Augen funkelten boshaft. Er hatte inzwischen wieder Platz genommen und giftete von seinem Stuhl aus zurück: »Alles Lügen und Ammenmärchen! Was wollt Ihr mir schon beweisen? Hier sitzt der wahre Schuldige« – er sprang auf und deutete auf seinen Bruder –, »der unfehlbare Frömmler und selbstgerechte Rat und Kaufmann, Heinrich Pütrich. Er hat die Psalmen geschrieben, und er hat den Atzmann geknetet. Er stellt König Ludwig nach und sucht ihn zu vernichten, und er hat die Morde der Reihe nach begangen, wie Ihr es zuvor ganz richtig gesagt habt. Ihn müßt Ihr hängen, damit das Scheusal endlich wahre Gerechtigkeit spürt!« Er rückte seinen Stuhl demonstrativ ein gehöriges Stück weg von seinem Bruder und ließ sich wie erschöpft darauf nieder.
»Gerechtigkeit klingt aus Eurem Munde wie Hohn«, antwortete ihm der Richter. »Doch Ihr sollt erfahren, was uns auf Eure Spur geführt hat, und dies gebührt Peter Barth«, den er nun mit einer freundlichen Geste aufforderte zu sprechen.
Peter hatte mit Entsetzen die Verwandlung des jüngeren Kaufmanns während der letzten bangen Minuten verfolgt: wie er erst zynisch den Alten zur Prüfung ermuntert hatte, sich danach selbst zierte und wand, als die Frage der eigenen Schuld anstand, und wie er schließlich die Maske fallen ließ. Aus dem sich stets freundlich und zuvorkommend gebenden Mitbürger entpuppte sich immer mehr ein kaltblütiger Mörder, der auf grausige Weise getötet hatte.
Wie sehr hatte Peter auf diesen Moment der Wahrheit gewartet und wie unwohl fühlte er sich nun in diesem Augenblick, als er die Indizien und Beweise offenlegen sollte. Es war fast wie damals bei Jakobs Verhandlung, als ihm ein Kloß die Kehle zuzuschnüren drohte. Aber der Moment der Unsicherheit währte nicht lange. Diesmal hatte er etwas zu sagen.
»Es fällt mir nicht leicht«, begann er schon während er sich erhob, »die Dinge darzustellen, und noch schwerer erscheint es mir, sie in rechter Weise zu gewichten. Ihr alle tragt nämlich Schuld, ohne Ausnahme, und nur das jeweilige Maß schuldhafter Verstrickung ist verschieden.
Aber vielleicht sollte ich zuerst noch von eigener Schuld sprechen, denn ich gebe zu, daß wir Euch getäuscht haben.« Er trat vor Ludwig Pütrich hin. »Ihr hattet recht, als Ihr argwöhntet, daß
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