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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
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mit dem Psalter etwas nicht stimmte und zwar ungeachtet des fehlenden Blattes.«
    »Hab’ ich’s nicht gesagt?« triumphierte der Angesprochene. »Alles Lüge! Ungültig! Bloß ein irrwitziges Spiel.«
    »So nun auch wieder nicht«, widersprach Peter. »Der Fehler liegt darin, daß Bruder Servatius – hm, sagen wir versehentlich – das Holz an der falschen Stelle eingelegt hat, nämlich bei Psalm sieben, dessen sechzehnter Vers lautet: Eine Grube hat er gegraben und ausgehöhlt, doch stürzte er ins Loch, das er selbst gemacht. «
    »Ihr verdammten Heuchler!« rief Ludwig Pütrich, kochend vor Wut. »Ihr seid Lügner und Betrüger. Schert Euch zum Teufel!«
    »Hätten wir Euch dann unseren kleinen Irrtum offenbart?« wandte Servatius mit Unschuldsmiene ein. «Damit Ihr unsere Ehrlichkeit erkennt, will ich Euch sogar noch verraten, daß der Psalter sich nur in der von uns gewollten Richtung gedreht hat; denn es war zu keiner Zeit unsere vermessene Absicht, ein wirkliches Ordal zu inszenieren«, klärte der Mönch augenzwinkernd auf, und Paul fügte mit zufriedenem Grinsen hinzu: »Ihr glaubt gar nicht, wie schwer das war und wie lange wir geübt haben.«
    Pütrich sprang auf, rot vor Zorn, und lief drohend auf Servatius zu: »Das habt Ihr nicht umsonst getan. Das wird Euch noch leid tun!«
    »Ich denke, der Herr wird uns die kleine List nachsehen«, antwortete der Mönch ergeben, während er mit erhobenen Händen zurückwich. »Wo es doch um so viel mehr ging.«
    Heinrich Rabenecker sprang dazwischen und fuhr den Schwager an: »Halt dich doch endlich zurück, du Narr! Merkst du nicht, wie sie dich anstacheln? Du reitest dich selber hinein und verschlimmerst alles nur noch!«
    Der jüngere Pütrich riß sich los und kehrte widerstrebend auf seinen Platz zurück, während Rabenecker selbst sich vor dem Richter aufbaute. »Nun haben wir Euer Spiel genossen, und Euch hat es hoffentlich gefallen. Dann könnten wir die Farce jetzt beenden. Ich habe zu tun.«
    »Warum so ungemütlich?« fragte der Richter. »Wollt Ihr nicht erst hören, wessen Ihr beschuldigt werdet?«
    »Hebt Euch Euren Hohn für andere auf«, schnauzte Rabenecker zurück, »und schickt Eure tollwütigen Hunde nach Hause. Mich könnt Ihr mit derlei Mätzchen nicht beeindrucken. Ich kann guten Gewissens beschwören, daß ich keinen einzigen dieser Morde begangen habe, und Ihr habt nichts gegen mich in der Hand.«
    »Da irrt Ihr Euch«, meldete sich Peter wieder zu Wort. »Ihr habt zwar nicht gemordet, dennoch seid Ihr keineswegs frei von Schuld. Eure große Stunde sollte gewissermaßen erst noch kommen.«
    »Jetzt macht Ihr mich aber neugierig«, gab Rabenecker boshaft zurück.
    »Ich will’s Euch gerne erklären«, sagte Peter gönnerhaft, »doch alles zu seiner Zeit. Laßt mich fortfahren, wo ich stehenblieb.« Er faltete die Hände und legte dabei die Zeigefinger nachdenklich an die Lippen, während er auf Ludwig Pütrich zuging.
    »Ihr habt es mir wirklich sehr schwer gemacht und seid ein Meister der Verstellung. Ihr habt Euch leutselig gegeben, habt bald hier ein gutes Wort eingelegt, bald dort vermittelt, und Ihr habt Euch stets versöhnlich gezeigt und wart scheinbar um Ausgleich bemüht. Doch innerlich muß Euch der Haß schier zerfressen haben. Ich habe es lange Zeit nicht wahrhaben wollen, weil… weil ich – nun, ich denke, das tut hier nichts zur Sache.
    Ich habe jedenfalls lange geglaubt, daß Haß etwas Unüberwindliches und tödlich Gefährliches ist. Und deshalb fürchten wir ihn – zu Recht – und suchen ihn zu verdrängen, im Herzen zu verschließen oder ganz einfach zu leugnen.
    Ist es nicht merkwürdig, daß ausgerechnet ein alter Jude mich auf den Gedanken brachte, daß Haß oft nur die Kehrseite von Liebe ist, das andere Extrem einer übergroßen Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit?«
    »Was faselt Ihr da?« ließ sich plötzlich der alte Pütrich zornig vernehmen.
    »Wartet ab«, bat Peter, »und Ihr werdet’s verstehen. Der alte Isaak sprach auch von Kräften der Zerstörung, die manchen Menschen innewohnen, die aber nicht notwendigerweise immer nur schlecht sein müssen, sondern auch der Veränderung dienen. Manche Menschen erdulden viel und es dauert oft lange, ehe sie sich auflehnen. Aber Unterdrückung in jeder Form gebiert Haß, und dieser Haß gibt ihnen schließlich die Kraft zur Befreiung und den Mut, sich aus ihren Fesseln zu lösen. Aber damit ist die Aufgabe des Hasses erfüllt, und wo er weiter wirkt, wird er

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