Der Wachsmann
Schlimme ist, wir haben einen Toten, von dem wir nicht wissen, wann, wie und wo er gestorben ist. Und dann«, der Richter trommelte mit dem Zeigefinger auf den Tisch, »dann gibt es da noch eine schwerwiegende Sache, über die ich mit Euch reden muß. Ich hatte Euch deshalb auch schon erwartet.«
Jetzt kommt’s, dachte Peter. Seine Befürchtungen würden sich bestätigen.
»Ihr habt sicher von dem Einbruch gehört, und ich kann Euch versichern, der Kaufmann hat getobt. Was habt Ihr dazu zu sagen?«
»Ehrlich gesagt, nichts. Ich kann mir keinen Vers darauf machen.«
»Oh, der Kaufmann denkt da anders, ganz anders. Der kann ein ganzes Lied davon singen. Und die Helden seiner unrühmlichen Ballade sind: Jakob Krinner, nun leider tot, eine Horde wilder Flößer und zwei gewisse Herren, die auf die Namen Peter und Paul hören.«
»Ihr… Ihr glaubt doch wohl nicht, daß einer von uns das ganze Geld gestohlen hat?«
»Sagte ich etwas dergleichen? Woher wißt Ihr davon?«
Peter biß sich auf die Lippen. Er spürte, wie er rot anlief, als sei er schon ertappt und kurz vor dem Geständnis. Die umgängliche Art des Richters hatte ihn vertrauensselig und unvorsichtig gemacht. Er mußte aufpassen, daß er sich nicht plötzlich in Schwierigkeiten redete.
»Caspar Nickel – Ihr kennt ihn – stürzte gestern zur Mittagszeit in die Gaststube und berichtete, daß Heinrich Pütrich ausgeraubt worden sei. Da lag es doch nahe anzunehmen, daß es sich um eine beträchtliche Summe Geldes handeln müsse. Und da ich zwei und zwei zusammenzählen kann, konnte ich mir ausmalen, wen der Kaufmann beschuldigen würde.«
»Ich kenne den Nickel wohl und hatte heute auch schon die zweifelhafte Ehre seines Besuches. Es soll in der Schenke eitel Freude geherrscht haben über den Diebstahl und allen Jublern voran Euer Freund Paul. Liegt da der Kaufmann so falsch mit seiner Vermutung?«
Peter schwankte zwischen Erleichterung, daß Paul zur Lände gegangen war und erneuter Wut über dessen gestriges Verhalten. Er mußte abwiegeln. »Der Kaufmann hat sich doch schließlich niederträchtig gegen den Jakob benommen und…«
»Ich will mit Euch nicht über Schadenfreude rechten, sondern gehe der Frage auf den Grund, ob nicht einer der Jubler auch der Dieb ist.«
»Aber wir waren doch alle in der Kirche, als die Tat geschehen sein soll. Das Zunftrecht fordert von den Flößern den sonntäglichen Besuch der Messe, und Ulrich Hiltpurger ist da sehr streng.« Peter war jetzt dankbar für diese Tatsache.
»Wir werden dies nachprüfen«, erwiderte der Richter skeptisch. Er schien noch keineswegs von der Unschuld frommer Kirchgänger überzeugt zu sein, die nach der Messe einen Veitstanz angesichts des Einbruchs bei einem ehrbaren Bürger vollführten. »Und selbst, wenn ich der Behauptung Glauben schenkte, so bliebe noch immer Euer Freund Jakob als Hauptverdächtiger. Erinnert Euch an seinen Fluch!«
»Jakob war doch längst aus der Stadt und weit weg.«
»Wer beweist das? Es wäre beileibe nicht das erste Mal, daß ein Wächter seine Pflicht nur halbherzig erfüllt und daß unter einem Heuhaufen oder in einer leeren Tonne…« Der Richter stockte. »Verzeiht, es war ein unpassender Vergleich. Jedenfalls, daß sich jemand auf irgendeine Weise in die Stadt einschliche. Woher, glaubt Ihr, käme sonst das ganze Gesindel?«
»Ich bitt’ Euch, bedenkt Jakobs Zustand. Er war doch schon bei seiner Verurteilung dem Tod näher als einer Spitzbüberei und hätte er noch so großen Haß gegen den Kaufmann gehabt. Nein, der Jakob kann es ganz einfach nicht gewesen sein. Da bin ich mir ganz sicher.«
»Habt Ihr Euch noch nie in jemandem getäuscht?«
»Nun ja,…« Peter dachte flüchtig nach. So viel Gelegenheit dazu hatte er in seinem jungen Leben noch gar nicht gehabt. Damals vielleicht, als er ins Kloster sollte…
»Auch mir erscheint eine Schuld des Fergen Krinner eher unwahrscheinlich«, räumte Diener ein, »jedenfalls mehr…« – er setzte ein ernstes Gesicht auf und deutete mit seinem Zeigefinger auf Peter–, »als ich bislang von der Unschuld dieser verrückten Flößer überzeugt bin. Das Dumme ist nur: Warum hängt der arme Kerl sich auf? Jetzt kann der Kaufmann natürlich behaupten, der Krinner habe erst ihn aus Rache bestohlen und sich anschließend wie Judas aus Verzweiflung erhängt.«
»Es könnte doch genausogut sein, daß jemand anderer den Diebstahl beging. Vielleicht kam ihm die Geschichte mit Jakob gerade gelegen, um dadurch
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