Der Wachsmann
seiner in Milde zu gedenken und seine schuldbeladene Seele der verzeihenden Liebe des Herrn zu empfehlen? Es sei denn, jemand ist von unsäglichem Haß besessen, und das ist in unseren Tagen, wo sich selbst Brüder bekriegen, leider nicht selten. Ich fürchte, es gibt keine andere Erklärung dafür.«
Als Bruder Guntram die tiefe Enttäuschung in Peters Gesicht sah, der sich doch zumindest von seinem alten Lehrer Aufschluß und Rat erhofft hatte, fügte er rasch hinzu: »Vielleicht gibt es ja noch eine andere, tiefere Bedeutung der Zeilen, die eventuell einen verborgenen Zusammenhang mit dem Tod des Floßmanns ergibt.«
Peter sah ihn erwartungsvoll an.
»Nun, du nanntest mich einen Kenner der Wissenschaften. Das mag auf manchen Gebieten zutreffen. Doch ich bekenne freimütig, daß meine Fähigkeiten sich mehr auf die translatio denn auf die interpretatio eines Textes erstrecken. Die Heilige Schrift als Gottes Wort ist von unergründlicher Tiefe. Und wie schon Isidor von Sevilla lehrte, ist sie nicht nur wörtlich zu verstehende Heilsgeschichte, sondern in mehrfacher Hinsicht auch symbolisch aufzufassen.
Nimm zum Beispiel nur die heilige Stadt Jerusalem, die im historischen Sinne die Perle Palästinas und hehres Ziel aller Kreuzfahrer ist. Nach Wilhelm Durandus weist sie aber auch allegorisch über das Alte ins Neue Testament hinaus als ein Sinnbild für die kämpfende Kirche. Und deutest du die Schrift moralisch-belehrend, so steht Jerusalem für die christliche Seele. Im anagogischen Sinne schließlich, der hinführt zu den sakramentalen Wahrheiten und die Mysterien ewiger Seligkeit enthüllt, bezeichnet Jerusalem unsere künftige himmlische Wohnstatt.«
Hätte der gelehrte Chorherr seinem ehemaligen Schüler das Heilige Buch einfach um die Ohren geschlagen, so hätte dieser kaum weniger ratlos dreingesehen. Bruder Guntram lächelte nachsichtig. »Du siehst, es ist eine hohe Kunst, die intensives Studium verlangt. Ich rate dir daher, wende dich an die eremitischen Brüder des heiligen Augustinus in deiner Stadt. Ihre Schule der Theologie zu Paris ist weithin berühmt. Ach, und was den Psalm betrifft, ich laß dir eine Abschrift von der Übersetzung machen. Und falls du wieder einmal Fragen – nun, sagen wir zu der Grammatik – hast, dann wende dich getrost an unseren Klosterhof in München. Dort wird man dir ebenfalls weiterhelfen können.«
Peters Mut, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, war damit zwar noch nicht völlig wieder aufgerichtet, doch schöpfte er immerhin neue Zuversicht. Und diese verleitete ihn auch prompt zu gewagten Äußerungen.
»Gewiß könnt Ihr mir noch in anderer Weise behilflich sein. Sagt, ist es wahr, daß in den Zahlen das Geheimnis der Schöpfung und der Lauf der Dinge verborgen sind?«
»Nun, der heilige Augustinus trifft wohl zu Recht die Feststellung, daß die Vorsehung jeder Ziffer eine bestimmte Bedeutung verliehen hat, und er nennt die Zahlen in trefflicher Weise ›Gedanken Gottes‹. Doch die Ergründung dieser Gedanken darf uns nur dazu dienen, die Herrlichkeit Gottes und seiner Schöpfung zu erfahren, nicht aber zu abgründigen Spekulationen verführen.«
»Ich traf soeben einen hochgelehrten Fremden, aus Bologna kommend, der sich als Doktor der Rechte bezeichnete und mir kenntnisreich erörterte, wie sich in den Zahlen auch unser Schicksal offenbart.«
»Wie?« Bruder Guntrams mildes Lächeln war urplötzlich gespannter Aufmerksamkeit gewichen, und er schien auf die nächste Feststellung zu warten, wie der Fuchs vor dem Kaninchenbau.
»Ja«, fuhr Peter arglos fort, »er erklärte mir, daß in den Ziffern sogar Tag und Stunde unseres Todes verborgen seien und Raimundus Lullus habe in seiner Ars magna eine Methode…«
»Genug!« schnitt ihm der erzürnte Chorherr das Wort ab. »Was ist das für ein frevlerischer Unsinn? Weißt du denn nicht mehr, daß geschrieben steht: ›Niemand soll wissen den Tag noch die Stunde!‹ Und was soll diese kindische Zahlenspielerei? Bald wird jeder dreiste Zecher sich darauf berufen, nur um im Namen der Dreieinigkeit drei Becher Wein zu saufen.«
»Aber«, wandte Peter zaghaft ein, »er hat es mit der Geheimen Offenbarung belegt und…«
»Pah!« unterbrach der Chorherr brüsk den Versuch einer Verteidigung. »Es heißt auch, daß jene, die den Weg der Gerechten verspottet haben, dereinst an ihren Zungen aufgehängt werden. Oh, ich ahne, was dir Übles widerfahren ist. Du bist einem dieser vermaledeiten Scholaren in die Fänge
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