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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
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öffnete seinen Mund, um ihnen zu danken und den Herrn zu lobpreisen, doch anstelle von Wörtern purzelten nur mißgestaltete Zahlen heraus, die zischend enteilten und unter gräßlichem Gestank verglühten. Alsbald erreichten sie die Spitze eines Berges und während die Engel herniederfuhren, wurde der Träumer gewahr, daß der Berg aus lauter Kadavern und gräßlich verrenkten Leichen getürmt war. Die geheimnisvollen Begleiter stellten ihn an den Rand eines Abgrunds, aus dem faulige Schwefeldämpfe emporquollen. Und durch den Nebel sah Peter am Grunde der Schlucht unzählige Leiber in schrecklichen Martern und Qualen sich winden. Und er sah den Doktor aus Bologna: an seiner Zunge aufgehängt und von unzähligen Pfeilen der Gerechten durchbohrt. Und plötzlich blickte Peter in sein Spiegelbild. Er schrie auf und zerrte an den Kutten seiner Begleiter. Deren Kapuzen glitten zurück, und Peter sah in die grinsende Fratze des Engels der Finsternis und seines grausigen, hohläugigen Bruders. Der hielt eine Sanduhr, die fast abgelaufen war, in die Höhe und kicherte zahnlos: »Du willst wissen den Tag und die Stunde…« Peter schrie erneut auf, stürzte über den Rand der Klippe und fiel und fiel und fiel…
    »Ruhig, ganz ruhig! Es ist alles gut. Du hast nur schlimm geträumt.«
    Der Bruder Hospitarius drückte ihn sanft aufs Lager zurück und tupfte mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Am Fußende kauerte ängstlich Perchtold und knabberte unruhig an seinen Nägeln.
    »Was… was ist los?« stammelte Peter. »Warum seid Ihr hier?«
    »Du hast geschrien, und dein kleiner Begleiter kam verzweifelt über den Hof gelaufen. Doch jetzt ist alles gut.«
    Peter verspürte keine Lust mehr, sich nochmals hinzulegen und eventuell erneut den Schrecken der Nacht zu begegnen. Er erhob sich, erfrischte sich ein wenig mit kaltem Wasser und wohnte dann mit Perchtold der Laudes bei, dem Morgenlob zum Anbruch der Dämmerung.
    Nach einem einfachen Frühstück spannten sie Hilde und Else vor den Wagen und begaben sich mit dem Segen des Propstes auf den Rückweg nach München. Am Kreuzweg angekommen, erwog Peter einen Augenblick lang, nochmals nach Weikenried zurückzukehren, um den vermaledeiten Hochstapler und Dieb Friedericus zur Rechenschaft zu ziehen. Doch gleich darauf erschien ihm dieser Gedanke sinnlos, denn der betrügerische Vogel war sicher längst ausgeflogen, und der schlagkräftige Wirt und seine Halunken würden heute kaum besser gelaunt sein.
    Peter ließ die Pferde ausgreifen, um all die Schrecken der letzten Tage hinter sich zu lassen: Das Geplänkel mit den tumben Wächtern, das übel hätte ausgehen können, das bestürzende Wiedersehen mit seinem geliebten Oheim, der dem Verfall entgegenging, die lästerliche Begegnung mit dem falschen Doktor, dem die Verdammnis schon über die Schulter blickte und schließlich der trügerische Friede an einem Ort der Erbauung, der für eine gute Weile einmal seine Wohnstatt gewesen war. Doch sein Zuhause lag jetzt in München, und Peter freute sich mit jeder Meile mehr darauf. Und er freute sich vor allem auf Agnes, auf ihr erfrischendes Lachen und ihre zupackende Tüchtigkeit, die einem das Grübeln und die Sorgen vertreiben konnten. Er war eben erst zwei Tage fort und vermißte sie, als habe er den großen Khan besucht und sie vor Jahren schon verlassen. Er sehnte sich nach der Geborgenheit in ihren Armen, nach der Wärme ihres Körpers und – Himmel, ja! – nach den Wonnen fleischlicher Lust. Peter fühlte sich Agnes in diesem Augenblick sehr nahe, und er glaubte noch ein wenig mehr davon zu verstehen, was den Jakob mit seiner Lies verbunden und was ihn stets zu ihr zurückgedrängt hatte.
    Der Gedanke an Jakob ließ ihn allerdings eher Trübsal verspüren, denn nichts hatte er in dieser Angelegenheit bisher erreicht. Er wußte jetzt zwar sicher, daß das Stück Pergament einen Psalm trug, und er wußte auch welchen, aber irgendeinen Sinn ergab das Ganze noch nicht. Und um die Diskussion des zweiten Textes hatte er sich gleich selbst gedrückt. Er war letztlich keinen Schritt weiter, als bei seiner Ausfahrt vor zwei Tagen.
    Bald kamen das Örtchen Baierbrunn und seine trutzige Burg in Sicht, und wenig später boten sich wieder herrliche Ausblicke ins Isartal. Peter behielt den Rand des Steilhangs im Auge, doch soweit ersichtlich, zeigte das Gelände nirgendwo eine günstige Gelegenheit, um hinab-oder heraufzuklettern, ohne sich geradewegs den Hals zu brechen. Er ließ die

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