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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
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geeignet ist?«
    Peter holte aus seinem Wams das Pergamentstück mit den lateinischen Versen hervor und reichte es seinem alten Lehrer. »Könntet Ihr mir vielleicht sagen, was das ist?«
    Bruder Guntram überflog kurz die Zeilen und entschied dann: »Nun, es sind Verse eines Psalms.« Er zog die Augenbrauen hoch und grinste Peter süffisant an. »Hast du etwa alles schon verlernt oder willst du nur die Feinheiten der Grammatik mit mir diskutieren?«
    Peter lächelte etwas verschämt und beteuerte tapfer: »Natürlich weiß ich, daß es sich um einen Psalm handelt, ich kann nur nicht feststellen, um welchen.«
    Mit einem Male fühlte sich Peter zurückversetzt auf die harte Bank der Lateinschule und er hoffte inständig, der gestrenge Chorherr möge ihn nun nicht die Verse übersetzen lassen.
    Bruder Guntram war an sich eine Seele von Mensch, dessen weiche Gesichtszüge in der Regel ein verschmitztes Lächeln zierte und dessen beachtliches Bäuchlein gut zu seiner Beschaulichkeit paßte. Die scheinbare Behäbigkeit war jedoch nur physischer Art. Der flinke Geist war stets hellwach, wenn er mitunter auch ein wenig entrückt schien. Die spärlichen Überreste seines weißen Haarkranzes standen widerborstig in alle Richtungen, stets so, als sei er gerade unter einem Haufen Bücher hervorgekrochen. An einem fließenden Hexameter Vergils, der ausgefeilten Komposition und Metrik horazischer Lyrik oder einem gekonnt lautmalerischen Satz Ovids konnte er sich ebenso erfreuen, wie das Jesukind in der Krippe an den Gaben der Weisen aus dem Morgenland. Allerdings hatte ihm der Schöpfer als Gegenstück zur Sanftheit und als dauerhafte Prüfung auch ein gehöriges Stück Jähzorn mit in die Wiege gelegt. Und der friedfertige Gelehrte konnte fuchsteufelswild werden, wenn die störrischen Esel, für die er seine ihm anvertrauten Schüler nun einmal hielt, zum wiederholten Male Reim und Rhythmik verhunzten. Das zerrupfte Aussehen des Haselnußstrauches vor dem Schulgebäude war des Bruders beachtlichem Verbrauch an Gerten zuzuschreiben. Doch Bruder Guntram lächelte diesmal milde und vertiefte sich nochmals kurz in den lateinischen Text.
    »Da ganz offensichtlich Verse fehlen und die Stelle aus dem Zusammenhang gerissen ist, bin ich mir nicht restlos sicher. Aber da es überaus schwere Verwünschungen sind, nehme ich doch an, daß es sich um den hundertachten Psalm nach der griechischen Zählung der Vulgata handelt, in dem ein Gerechter Klage führt über das frevelhafte Treiben seiner Feinde und seinen Rachewünschen Ausdruck gibt. Doch das läßt sich leicht feststellen.«
    Er ging gezielt zu einem der zahlreichen Wandschränke und entnahm ihm einen sorgfältig gebundenen Psalter. »Der Herr möge es mir nicht als unbescheidenen Stolz auslegen, wenn ich behaupte, daß in den Reihen unserer Ordensbrüder hervorragende Übersetzer zu finden sind, und Abt Gerhard von Windberg war sicherlich einer ihrer besten. Unsere Abtei besitzt glücklicherweise eine Abschrift seiner Psalmenübersetzung.«
    Er blätterte kurz in den Seiten, hatte gleich darauf die entsprechende Stelle gefunden und las sie vor:
      Wenn er gerichtet wird, gehe er als Schuldiger davon,und sein Gebet werde zur Sünde.Seiner Tage seien wenige;und sein Amt erhalte ein anderer!Seine Kinder sollen zu Waisen werdenund sein Weib zur Witwe.Unstet mögen seine Kinder umherirren und betteln gehenund hinausgestoßen werden aus ihren Wohnungen.Der Gläubiger spüre all seine Habe auf,und Fremde mögen rauben, was er mühsam erworben.   Jetzt, wo Peter den Inhalt der Verse völlig verstand, erschienen sie ihm noch weitaus bedrohlicher. Was hatte dies alles mit Jakob zu tun? Der Chorherr schien zu ahnen, daß Peter etwas bedrückte und fragte vorsichtig nach: »Es ist ein ungewöhnlicher Psalm und schwer zu verstehen. Willst du mir anvertrauen, weshalb dich gerade diese Zeilen beschäftigen?«
    Peter hielt es für das beste, die ganze Geschichte kurz zu erzählen und schloß mit der Vermutung, daß der Psalm in irgendeiner Verbindung zu Jakobs mysteriösem Tod stehe.
    »Das ist fürwahr eine schlimme Geschichte«, räumte der Ordensbruder betroffen ein. »Und der Herr sei seiner armen Seele gnädig. Aber ich sehe nicht recht, was der Psalm damit zu tun haben soll. ›De mortuis nil nisi bene!‹ sagt der Philosoph. Dieser Psalm aber enthält schreckliche Verwünschungen und welcher rechtschaffene Christenmensch wollte noch über den Tod hinaus dem Verstorbenen fluchen, anstatt

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