Der Waechter
Buch, das sie derzeit las und das sie wach hielt, war das ihres Daseins.
Jenny saß im Bus und beobachtet, wie die Landschaft an ihr vorbeiflog. Erst jetzt kam sie soweit zur Ruhe, dass sie den Vortag noch einmal Revue passieren lassen konnte. Es war unmöglich, alles in ein Bild zu fassen, das sie sofort begriff. So klar, wie gestern Abend noch alles zu sein schien, so fremd war es ihr jetzt. In welcher Welt war sie gelandet? Was war mit der, in der sie zur Schule ging wie alle anderen, in der sie in den Verein ging wie alle anderen, sich über die Lehrer ärgerte wie alle anderen. Wo war die belanglose Alltäglichkeit geblieben, die sie immer angeödet hatte? Jenny überkam eine tiefe Traurigkeit. Nichts war mehr wie vorher. Sie war nicht nur anders, sie war ein Freak, ganz und gar abgedreht. Wie sollte sie sich ihrer Familie gegenüber verhalten? Ihren Freunden? Wie sollte sie es allen beibringen? Da kam ihr ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn sie noch mal überfallen wurde und Menschen, die sie liebte in ihrer Nähe waren? Vielleicht sogar Schäden davontrugen? Der Angriff gestern hatte schließlich ihr gegolten. Sie war die Einzige gewesen, die es gelohnt hatte zu überfallen. Sie war die Schwächste. Mehr als ihren Schutzschild brachte sie nicht zustande. Und der hätte sie nicht gerettet, wäre sie alleine gewesen. Verunsichert sah sie sich um. Woher konnte sie wissen, dass nicht einer der Schüler hier ein Schattenträger war? Oder auch der Busfahrer. Im Grunde fuhr sie wie ein Happen Haifutter durch die Gegend. Da kam ihr eine Idee: Sie konnte das farbige Licht der Fragmente sehen und vielleicht konnte sie so hier im Bus einen Humānimus ausmachen. Doch wie stellte sie das an? Bisher waren die Dinge von alleine gekommen, ohne dass sie es steuern konnte. Jenny konzentrierte sich. Wenn sie sich gedanklich nur richtig darauf einstellte, konnte sie vielleicht etwas erkennen. Sie atmete tief durch und riss angespannt die Augen auf. Dann sah sie sich um. Nichts. Sie konnte rein gar nichts sehen, bis auf die Tatsache, dass die Überprüften um sie herum zurückschauten, als sei sie gestört. Blieben drei Möglichkeiten: Entweder sie sah nichts, weil sie es nicht auf Kommando konnte oder sich alle ausreichend gut schützten. Oder sie sah nichts, weil es nichts zu sehen gab. Es mochte zwar überall Humānimi geben, aber eben nicht viele. Bis sie in Hütteberg hielten, war Jenny ganz wirr im Kopf. Nina und Eva stiegen gemeinsam ein und schienen bester Laune. Sie lachten über etwas, als sie bei Jenny ankamen, und setzten sich auf den Doppelsitz vor ihr.
« Und, alles klar bei dir? », drehte Nina sich zu Jenny um.
« Ja, alles klar. Nur müde », antwortete sie mit einem flüchtigen Blick auf Eva.
Die beachtete sie nicht weiter, sondern sah nach vorn. Eva hatte allen Grund dazu, sauer auf sie zu sein und Jenny war gespannt, wie Konrad ihr heute begegnen würde. Es war unmöglich, ihn einzuschätzen.
Als sie das Schulgelände überquerten, war Jenny mulmig zumute. Sie fühlte sich plötzlich fremd und völlig fehl am Platz. Wie sollte es hier für sie weitergehen? Alle schienen so unbeschwert und ausgelassen zu sein. Am liebsten hätte sie ihren Kragen hochgestellt, den Schal bis zu den Augen gezogen und ohne sich umzusehen, auf ihren Platz im Klassenzimmer gesetzt. « Halt dich aus allem raus, dann kommst du in nichts rein », hatte ihre Oma immer gesagt. Genau danach war ihr gerade. Sie bemerkte nicht, wie Eva und Nina sich verabschiedeten. Jenny lief die Treppe hinauf, vorbei an Konrads Klassenzimmer. Erst da kam ihr die Idee, dass sie einen anderen Weg hätte gehen können, aber es war zu spät. Als Jenny den Bogen zur nächsten Treppe nahm und die üblichen Türsteher vor Konrads Klassenzimmer passierte, verstummten schlagartig alle. Sie hatte so ziemlich alles erwartet, nur das nicht. Es war als hätten sie Respekt vor ihr. Keine Sprüche, keine Jungennamen, keine Schmuse- und Schmatzgeräusche. Das war außergewöhnlich. Hatte Konrad etwas zu ihnen gesagt? Jenny ahnte, dass sie es nie erfahren würde.
Geschichte stand als Erstes auf dem Stundenplan.
« Oh, hier sieht es mir aber ganz nach einem Test aus », sagte Dr. Hauptmann, als er zur Tür herein kam und die ungeputzte Tafel sah.
Ich krieg Plack!
Wieder eine Fünf!
Die kleinen Pausen verbrachte Jenny entweder auf der Damentoilette oder im Klassenzimmer. Sie vermied es, durch die Gänge der Schule zu gehen. Ihr war nicht nach zwischenmenschlicher
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