Der Waechter
spürte plötzlich eine leichte Übelkeit in ihr aufsteigen. Kurz sah sie die vertraute Farbensuppe vor ihren geschlossenen Augen und plötzlich das Esszimmer mit allen Ratsmitgliedern.
Ups!
Am Tischende, mit dem Rücken zur Tür, saß Aaron. Er hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Ellenbogen auf die Stuhllehnen platziert und die Fingerspitzen beider Hände wie zu einem Dreieck vor der Brust zusammengelegt. Aufmerksam hörte er den anderen zu. Jennys Energie befand sich am gegenüberliegenden Ende des Zimmers in der Ecke neben dem Fenster zum Garten. Cynthia saß neben Aaron, sodass sie von Jenny ebenso weit weg war wie er. Jenny wusste, dass es klug gewesen wäre, sich wieder zurück in den Keller zu wünschen, aber genauso gut hätte man sie vor einen riesengroßen Schokoladenbrunnen mit Waffeln setzen und verbieten können, davon zu naschen.
« Die Frage ist doch, warum sie Angriffe starten mit einem einzigen Treiber, Sammler oder Krieger. Was glauben sie damit gegen unsere Besten ausrichten zu können? », fragte Samuel in die Runde.
Als Jael zum Sprechen ansetzte, erntete sie ehrfürchtige Blicke.
« Aber mein lieber Samuel, sie sind schlau. Sie wollen uns zermürben. Und sie wollen testen, wie weit Jennys Fähigkeiten reichen und ob sie vielleicht die Auserwählte ist. Sie müssen es schon alleine deshalb vermuten, weil sie so gut geschützt wird. »
Jaels Stimme war ruhig und ungewöhnlich tief für eine Frau.
« Das ist allerdings richtig », antwortete Samuel. « Wir hatten noch nie so viele », stockend suchte er nach dem passenden Wort, « Ein … sätze, wie in den letzten Monaten. Unsere Krieger kommen kaum mehr zur Ruhe. »
« Dann müssen wir eben noch welche zusammenrufen. Die Prophezeiung hat für uns alle Priorität. Bei uns im Westen ist es gerade ruhig », bot Konstantin sich an.
« Bleibt nur noch die Frage, welcher Sauger überhaupt so stark ist, dass er sich zutraut, sich ihrer Energie zu bemächtigen. Das ist doch Wahnsinn », gab Ruth zu bedenken.
«Es gibt einige Assugos, über die wir nichts wissen. Sonst wäre es ihnen ja nicht gelungen zu saugen», schlussfolgerte Agnetha logisch.
Jenny konnte sich nicht losreißen. Zumal Benedict gerade das Wort ergriff.
«Es wird immer schwerer für Konrad. Es wäre vernünftiger, wenn wir ihn ersetzen würden.»
Nein!
Jenny erschrak. Konrad ersetzen? Als ihren Wächter? Was hatte er falsch gemacht? Gerade gewöhnte sie sich doch an ihn! Diese Neuigkeit traf Jenny härter, als sie es sich hätte vorstellen können. Hatte er sich bei Benedict beklagt? Hatte er genug von ihr? Mit den paar Ausreißversuchen, die sie unternommen hatte und der kleinen Schlacht am Straßenrand musste ein Typ wie er doch fertig werden!
Verräter!
Konstantin mischte sich ein. «Ich denke, ich muss nicht extra erwähnen, dass Ludwig darauf brennt, diesen Part zu übernehmen. Ich halte ihn für stark genug.»
«Darum ist er auch heute hier», entgegnete Agnetha.
«Moment!», meldete sich Cynthia zu Wort und hob ihre flache Hand zu einer stoppenden Geste, «ich verstehe eure Bedenken. Aber Konrad hat mehr als einmal bewiesen, dass er der Herausforderung gewachsen ist. Meine persönliche Überzeugung ist, dass keiner, und ich meine wirklich keiner, eben gerade aufgrund der gegebenen Besonderheiten, in der Lage sein wird, Jenny so gut zu schützen wie Konrad.»
Ruth nickte zustimmend.
Benedict senkte niedergeschlagen den Kopf. Er schien selbst nicht ganz von seinem Einwand überzeugt zu sein.
Die Blicke aller Anwesenden ruhten nun auf Aaron. Eindeutig war er es, der das letzte Wort haben sollte. Aber er rührte sich nicht. Wie ein Vakuum schien er alles Gesagte in sich aufgesogen zu haben und es nun zu überprüfen. Nach einer Weile atmete er tief ein und sagte:
«Und es wird die Zeit sein, etwa zehn Jahre nach der Jahrtausendwende, da ein weiblicher Humānimus, einst ein Teil von zweien, des Sehens und der Zeit mächtig, in der Lage sein wird, einer Seite zur Übermacht zu verhelfen. Und es wird sein dieser Humānimus und sein anderer Teil, der allen Widrigkeiten zum Trotz, Vorrang gebieten wird, dem weißen Licht der Erde.»
Aarons Worte tönten wie ein Gesang lieblicher Geistwesen, ein melodisches Zitat, nicht von dieser Welt. Wie ein wärmender Balsam legte es sich auf Jenny nieder und wirkte bis in die Tiefe. Ehrfürchtiges Schweigen erfüllte den Raum. Ruths Augen glänzten vor Rührung. Cynthia schien ebenso ergriffen und nickte
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