Der Waechter
scheint so zu sein bei uns», strömte es entschuldigend aus ihr heraus, als sie einen Anflug von Wut und Verletztheit in seinen Augen aufblitzen sah.
«Was für eine Erinnerung?» Sein Ton war plötzlich streng, die Augenbrauen eng zusammengezogen, seine Lippen dünn wie ein Bleistiftstrich. Fordernd funkelten seine Augen sie an.
Jenny wich unsicher zurück und setzte sich an den Bettrand, mit dem Rücken zu ihm.
«Ich will es dir nicht erzählen.»
Genau solche Erinnerungen waren es, die er nicht mit ihr teilen wollte und sie konnte sie dennoch sehen, gegen seinen Willen. Das musste ihn einfach abschrecken. Wortlos stand Konrad auf und nahm seinen Mantel vom Sessel. Er blickte zum Fenster hinaus und verharrte einen Moment. Als er sich zu ihr umdrehte und sie sich zu ihm, konnte sie sehen, dass er sich verändert hatte. Zwischen ihnen beiden hatte sich etwas verändert. Sein Ausdruck war kühl und abweisend. Sie kannte diesen Blick. Er war der Grund dafür gewesen, dass sie am Anfang geglaubt hatte, er könne sie nicht leiden. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Mit großen Schritten eilte Konrad zur Zimmertür. Als er die Klinke umfasste, hielt er inne und legte seine Stirn an die Tür.
Bitte geh nicht! Nicht so! Das ertrag ich nicht!
Dann drehte er sich um, ging zu Jenny, beugte sich zu ihr herunter und gab ihr tonlos einen zarten Kuss auf die Lippen. Ohne ein Wort des Abschieds verließ er das Zimmer. Das Letzte, was sie von ihm an diesem Tag hörte, war das Einrasten des Wohnungstürschlosses.
Kaum war Jenny alleine, kam ihre Mutter herein, ermahnend den Zeigefinger erhoben.
«Schön, dass ich auch mal von deinem Freund erfahre. Wie alt ist er?» Sie erwartete nicht wirklich eine Antwort, denn sie sprach übergangslos weiter. «Und eins sag ich dir, Madame: Morgen geht’s zum Frauenarzt! Pille verschreiben. Und Kondome werden auch gekauft!», sagte sie, drehte sich auf dem Absatz um und knallte die Tür hinter sich zu.
Ihre Mutter war mit sechzehn schwanger geworden und ließ nie Zweifel daran, dass sie ihren eigenen Kindern das nicht wünschte.
Mir bleibt aber auch nichts erspart!
Dabei konnte Jenny sich glücklich schätzen, dass ihre Mutter mit der Anweisung gewartet hatte, bis Konrad weg war.
21. Kapitel
Einer der ersten Grundsätze, den Jenny beim weißen Bund gelernt hatte, war der, ihre Fähigkeiten in der Öffentlichkeit nicht einzusetzen, solange sie nicht ausgereift waren. Jenny bedauerte im Moment, dass sie geschworen hatte, sich an diesen Grundsatz zu halten, denn Gerd, drei Reihen hinter ihr, hatte seine neue Vorliebe für mit Spucke durchtränkte Papierkugeln entdeckt. Dazu kam, dass Jenny offenbar in idealer Schussrichtung saß. Es juckte sie in den Fingern sich umzudrehen und ihm mit einer gezielten Stoßwelle aus dem Handgelenk, sein Heft um die Ohren zu schlagen. Zu ihrer Schande musste sie gestehen, dass sie zurzeit so viel Interesse am Schulunterricht hatte wie eine Kuh zum Tanzen. Zu Beginn jeder Stunde fieberte sie der nächsten Pause entgegen, vom Schulschluss ganz zu schweigen. Alles drehte sich darum, so bald wie möglich zum Weißen Bund zu gelangen, um zu trainieren und mit Konrad zusammen sein zu können. Die große Pause war an diesem Tag besonders wichtig für Jenny. Sie wusste nicht, wie sie sich Konrad gegenüber verhalten sollte. Und vor allem, wie er sich, nach seinem reservierten Abgang am Vortag, ihr gegenüber verhalten würde. Seit Konrad wieder Jennys Wächter war, hingen sie zwar nicht offensichtlich miteinander herum, doch sie grüßten sich, wenn sie sich begegneten. Manchmal tauschten sie auch tiefere Blicke miteinander aus. Natürlich aus der vorgegebenen Distanz und ohne unaufmerksam zu werden. In den kleinen Pausen sah Jenny Konrad meist in der Nähe ihres Flurs oder sogar vor ihrem Klassenzimmer vorbeischleichen. Heute hatte sie ihn noch kein einziges Mal gesehen. Sie konnte nur hoffen, dass er sich ihr bald wieder öffnete, denn er fehlte ihr jetzt schon. Wie hatte sie Konrads Erinnerung sehen können? War es eine Seelenwanderung kombiniert mit einem Zeitsprung gewesen? Und wieso hatte sie an Benedicts Energie gehaftet, wenn sie doch mit der von Konrad verbunden war? Sie würde Samuel später um eine Unterredung bitten. Jenny sah Konrad erst nach der großen Pause beim Zurückkehren ins Schulgebäude aus der Nähe. Zuvor war er mit Rene und den anderen bei den Treppen gestanden und hatte sie im Auge behalten.
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