Der Waechter
ernster Miene. Dann sah er zu ihr herunter und grinste sie an. «Was soll ich da erzählen?» Er wand sich wie ein Aal. Mit der Hand fuhr er sich durchs Haar. «Ich bin nicht mehr so unschuldig wie du, falls du das meinst», platzte er schließlich heraus und warf die Hände nach oben, als richte sie eine Waffe auf ihn.
«Woher willst du wissen, wie unschuldig ich bin?» Jennys Ton klang ungewollt biestig.
Irritiert richtete Konrad sich auf. «Ich dachte nur.»
Er sah sie ernst und durchdringend an. Dann, nach einer Weile, schmunzelte er und legte sich entspannt zurück.
«Ich sehe es dir an», beschloss er zufrieden.
«So, so.» Sie war ein wenig eingeschnappt, schließlich war sie schon sechzehn.
Eine Weile schwiegen beide, dann sah Konrad ihr fest in die Augen.
«Du weißt doch, dass ich schon zwanzig bin, bald einundzwanzig. Da ist es doch klar, dass ich schon das ein oder andere erlebt habe, oder?», fragte er leise.
Sie zuckte mit den Schultern und wünschte sie hätte nicht gefragt. Wieso hatte sie es überhaupt getan?
«Ich hatte vor dir keine Freundin, nichts Festes, verstehst du?» Jenny spürte, dass es ihm schwerfiel, das zu sagen. «Es war anders vorher», fuhr er fort. «Bevor ich hierher kam. Benedict und ich sind viel herumgekommen, viel umhergezogen. Dahin wo man uns gerade brauchte. Wir waren nie lange an einem Ort.»
«Und habt es wild getrieben», beendete Jenny seinen Satz.
Wieder sah er zur Decke hinauf. Schuldbewusst drückte sie sich an ihn und legte den Arm um seinen Bauch.
«Dann bin ich froh, dass es jetzt anders ist», sagte sie beschwichtigend.
«Das ist es», sagte er, ohne zu zögern.
«Zeigst du mir, wie man fliegt?», kam es zusammenhanglos aus ihr heraus.
«Klar!», antwortete er. Dann sah er sie an und legte sein schiefes Grinsen auf. «In jeder Hinsicht», sagte er heiser und küsste sie wieder.
Jenny steht vor einem großen Wohnblock. Die Gegend ist ihr vollkommen fremd, aber sie spürt eine bekannte, eine vertraute Energie neben sich. Sie schaut die Häuserfront hinauf. An einem offenen Fenster sieht sie den blonden Schopf eines kleinen Jungen, vielleicht acht oder zehn Jahre alt. Er weint, unsagbar traurig. Sie kann seine Trauer spüren, seine Tränen sehen. Und seine Augen. Sie erkennt ihn sofort. An seinem hellen, durchdringenden Blick.
«Bleib!», ruft er zu ihr hinunter.
Sie hat nicht vor, zu gehen, will hier bleiben, aber die Energie, an der sie haftet, kann nicht anders, auch wenn es unerträglich schmerzt. Sie wird mitgeschleift, kann nicht den Blick von dem Jungen lassen. Neben ihm taucht ein anderer Junge auf, ein wenig älter, mit dunklerem Haar. Mit einem bösen Blick zu Jenny hinunter nimmt er den weinenden Jungen am Arm und zieht ihn zurück ins Zimmer. Schließt das Fenster. Der kleine Junge versucht sich am Griff festzuhalten, um noch einmal zu ihr zu schauen. Donnernde Trauer fließt von der vertrauten Energie neben ihr in ihre über. Sie spürt die Hilflosigkeit, die Vernunft, die Angst ihres Trägers. Betrübt blickt sie zu ihm neben sich. Sein Haar ist länger, seine Haut glatter, seine wenigen Schrammen sind frisch. Es ist Benedict.
Jenny schreckte auf. Konrad mit ihr.
«Oh, ich bin wohl eingenickt», sagte sie.
«Ich auch», erwiderte er und drehte den Wecker auf dem Nachttisch zu sich.
«Fast neun. Zeit zu gehen, hm?», fragte er.
«Nein.» Sie hielt ihn fest umschlungen.
«Was war los? Hast du was gesehen ? Oder schlecht geträumt? Du bist zusammengezuckt.»
Sie nickte zögernd. Als sie sich erinnerte, kamen ihr fast die Tränen. Der Junge am Fenster war Konrad gewesen. Aus welchem Grund auch immer hatte Benedict ihn verlassen. Sie konnte genau sehen und spüren, wie sehr er sich im Stich gelassen fühlte, aber auch die tiefe Verzweiflung Benedicts. Was war zwischen ihnen vorgefallen? Redete Konrad deswegen nicht gern über familiäre Dinge? Gerade vorhin hatte er noch gesagt, dass er nicht darüber sprechen wolle. Und nun hatte sie etwas gesehen, das er ihr nicht mitteilen wollte. Sie konnte ihm unmöglich sagen, was sie gesehen hatte.
«Was denn? Du hattest doch versprochen, es nicht mehr für dich zu behalten», sagte er.
«Das war eine von deinen Erinnerungen, Konrad. Keine von meinen Zukunftsvisionen», sagte Jenny leise.
Konrad richtete sich auf.
«Ich schwör dir, es war ein Versehen. Ich wollte das nicht. Wahrscheinlich war unsere Energie ungeschützt, weil wir eingenickt sind, und hat sich automatisch verbunden. Das
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