Der Waechter
ausgereiften Seher ist es nichts Besonderes, ganz anders als deine Zeitsprünge. Ein Seher kann diese Spuren sogar aufspüren und sich gezielt anschauen oder eben ignorieren. Das wird aber wohl noch etwas dauern, bis du soweit bist.» Samuel lehnte sich zurück. «Dein Wunsch, nicht mehr versehentlich Konrads Erinnerungen zu sehen, wird etwas warten müssen. Aber je eher du beginnst zu trainieren, um so eher wird es klappen.» Samuel lächelte Jenny aufmunternd zu. «Darf ich fragen, was für eine Erinnerung es war?»
Jenny überlegte kurz. Sie hatte weder Konrad noch Benedict davon erzählt, aber sie spielte ernsthaft mit dem Gedanken, Samuel darüber zu berichten. Sie war sich sicher, dass er ihr eine Erklärung geben konnte. Jenny schätzte, dass er als Archivar alles wusste, was die Geschichte der einzelnen Bundmitglieder betraf und sie würde zu gerne mehr über die beiden verschlossenen Brüder wissen.
«Nein, lieber nicht», sagte sie schließlich. «Ich glaube, es wäre zu persönlich.»
Samuel winkte ab.
«Ja natürlich. Kein Problem! Aber solltest du mal etwas Geheimes von mir aufschnappen, möchte ich es wissen», bestimmte er.
Jenny nickte.
«Samuel, was ist das für eine besondere Bindung zwischen mir und Konrad? Klar, wir sind Schützling und Wächter und wir sind verliebt ineinander. Aber das erklärt nicht, warum bei Konrad neue Kräfte aktiv wurden, als er mir begegnete. Er war doch schon ausgereift.»
Samuel atmete tief ein.
«Das wissen wir selbst nicht so genau. Die Zeit wird es zeigen. Wichtig ist nur zu wissen, dass es so ist.»
22. Kapitel
Seit Tagen brannten Jennys Hände. Alles, was sie anfasste, glaubte sie zischen zu hören. Konrad lachte nur darüber.
«Ist doch toll, dann kann’s jetzt richtig losgehen mit dem Training. Als Nächstes steht die Fortpflanzung, äh, Fortbewegung auf dem Plan», sagte er übermütig.
Aus irgendeinem Grund war Jennys Energie so stark und lebendig, wie sie es bei der Aktivierung gewesen war. Sogar noch stärker, denn im Gegensatz zu damals setzte sie ihre Energie täglich ein, sodass sie sich nicht staute. Inzwischen war es ihr schon gelungen die Blechdose mit einem andauernden Energiestrahl wieder auf der Fensterbank zu platzieren, obwohl das sehr anstrengend war. Sie musste den Strahl bilden und dauerhaft halten, indem sie die Energieausstoßung nicht unterbrach. Dazu musste sie ihn geschickt lenken und führen. Hinterher fühlte sie sich wie die Größte.
«Wir sind schon gespannt, was da noch für eine Fähigkeit hervorkommt. Offensichtlich hat eine weitere Aktivierung stattgefunden», wusste Samuel.
Es fiel Jenny sehr schwer, ihre Energie abzuschirmen. Meist lief sie herum wie ein aufgeblähter, rosafarbener Luftballon und wunderte sich, dass nicht alle es sehen konnten.
«Na, wie gefällt dir das?», fragte Konrad mit dem Lächeln eines kleinen Jungen.
Jenny quietschte vor Vergnügen. «Das ist so cool!» Sie sah zur Seite auf den Boden hinunter, während Konrad sie fest umschlungen hielt. Jenny hatte ihre Füße auf seinen Schuhen abgestellt, die Arme um ihn gelegt und ihre Daumen in seinen Gürtelschlaufen verhakt. Je weiter sie nach oben stiegen, umso fester krallte sie sich.
«Keine Angst, ich lass dich nicht los. Jedenfalls nicht mehr so bald», versprach er. «Und selbst wenn ich es tun würde, du könntest es auch. Du bist jetzt stark genug. Es ist nur noch eine Frage der Technik.»
«Ist das cool!», krisch Jenny. «Zeig mir wie!» Unter sich sah sie eine dicke Wolke von Konrads hellblauer Energie, die sich zur Mitte hin verdichtete und die beiden weiter nach oben steigen ließ.
«Es ist ganz einfach. Du lenkst deine Kraft in die Beine wie beim Kampf. Nur dass du sie dort noch nicht verdichtest, sondern sie nach unten austreten lässt. Erst wenig, dann mehr. Und erst dann verdichtest du sie von oben nach unten.»
Es klang wirklich einfach. Nur in der Durchführung erwies es sich als schwierig. Zunächst drückte Jenny ihre Energie nach unten in die Beine, wie sie es im Kampftraining gelernt hatte. Dann versuchte sie sie aus den Fußsohlen austreten zu lassen, was ihr zunächst auch gelang.
«Nicht mit dem Boden verbinden. Du musst sie zusammenhalten. Nicht abgeben. Halte sie zusammen!», rief Konrad ihr von der Decke her zu.
«Na, du hast gut reden. Du bist ja schon oben», giftete sie ein wenig.
Konrad lachte, während er mit verschränkten Armen zu ihr herabsah. Der Strahl, der ihn oben nahe der Raumdecke hielt, war
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