Der Waechter
ausgerechnet jetzt anders überlegen? Jetzt, wo sie ein wenig an Stärke gewonnen hatte und ihm ausgewichen war.
«Hey», antwortete sie und sah weiter aus dem Fenster.
«Ich kann nicht verhindern, dass du manche Dinge siehst», sagte er schließlich aus der Ferne. «Aber darüber reden will ich nicht.»
Ungläubig schaute sie ihn an. «Und weißt du was ich will?», fragte sie, im Ton schon etwas ungehalten. «Einen Freund, der nicht die beleidigte Leberwurst spielt, wegen Dingen, die mir mindestens genauso weh tun, wie ihm. Einen, der mich nicht bei jeder kleinsten Gelegenheit sitzen lässt. Einen der wenigstens versucht zu verstehen, wie es sich für mich anfühlt, so rein gar nichts über ihn wissen zu dürfen. Das will ich.»
Betroffen sah er sie an. Dann schaute er nachdenklich zu Boden.
«Sagst du mir jetzt, was du gesehen hast?»
«Wozu? Du willst doch nicht darüber reden. Und ich will es nicht noch mal durchleben. Genauso wenig wie du!»
Ungewollt fauchte sie. Der ganze Frust, der sich den Tag über in ihr angesammelt hatte, entlud sich auf einmal. Wieder spürte sie heiß die Tränen in den Augen.
Scheiß Flennerei! Ich muss weg!
Hastig drückte Jenny sich an Konrad vorbei und rannte aus dem Haus. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte wegzulaufen. Konrad würde sie nicht aus den Augen lassen und war schnell wie der Blitz. Aber sie musste sich jetzt bewegen. Von Energiemangel konnte keine Rede mehr sein. Ihr Licht brannte wie ein Feuer. Ausgerechnet jetzt öffnete der Himmel seine Schleusen und ließ herab, was er zu bieten hatte. Dicke Regentropfen prasselten auf Jenny und peitschten ihr ins Gesicht. Sie rannte durchs Wohngebiet, bis sie nicht mehr konnte. Dann stützte sie ihre Hände auf die Knie, um richtig durchzuatmen. Ihre Tränen waren versiegt und es begann ihr leichter zu werden ums Herz. Sie reckte das Gesicht gen Himmel und genoss den kalten Regenguss wie eine reinigende Dusche. Als sie sich umdrehte, stand Konrad vor ihr, ebenso durchnässt wie sie. Von seiner Nasenspitze und den langen Wimpern fielen vereinzelt Regentropfen herunter. Seine Augen schimmerten blass zwischen sorgenvoll verengten Lidern hervor.
«Keine Angst, ich will nicht abhauen. Ich wollte nur laufen», sagte sie atemlos und ging an ihm vorbei, um zurückzugehen.
Doch Konrad hielt sie fest. «Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht strafen. Ich war nur so getroffen. Es gibt Dinge, die kann ich mit niemandem teilen. Noch nicht.»
Jenny nickte. «Ich weiß. Aber du kannst mich nicht so behandeln, hörst du?»
Konrad hielt sie fest, drehte sie zu sich um. Dann hob er die Hand, strich ihr das nasse Haar zurück und küsste sie. Und trotz aller guten Vorsätze konnte Jenny nicht anders, als es geschehen zu lassen.
«Das ist schön, dass du Benedicts Erinnerung aus Konrads Energie herausgelesen hast», sagte Samuel, der Jenny gegenübersaß.
Schön ist was anderes!
«So hat sich dein Seher-Spektrum noch um eine Form erweitert. Bei Sehern ist es nichts Ungewöhnliches. Wenn wir mit einem anderen Seelenträger sehr verbunden sind so wie Konrad mit Benedict, kann uns auch ein Teil seiner Erinnerungsspuren anhaften. Insbesondere, wenn wir in der Erinnerung eine Rolle spielen. Nicht jede Erinnerung hinterlässt Spuren im Fragment. Oft erinnern wir uns aus dem Gedächtnis heraus. Aber Erlebnisse, die sehr einprägsam waren und während denen unsere Lebensenergie ausgesprochen aktiv arbeitete, hinterlassen eine Spur im Fragment wie Rillen auf einer Schallplatte. Ein Teil dieser Spur kann auf einen anderen Energiekörper übergehen, einem der uns sehr verbunden ist. Geteiltes Leid ist halbes Leid, der Spruch kommt nicht von ungefähr. So etwas geschieht, ohne dass wir es kontrollieren können. Ein normaler Humānimus kann allerdings die Erinnerung aus dem Spur-Anteil nicht lesen. Er haftet einfach nur an ihm, ohne dass er in sein Bewusstsein übergeht. Du, als Seherin kannst die Spur der Erinnerung abtasten oder dich gar mit ihr verbinden und dann ist es, als wärst du selbst dort gewesen. Es ist aber kein Zeitsprung im eigentlichen Sinne. Und auch keine Seelenwanderung. Es ist eine Erinnerung, die in dir abläuft wie ein Film. Die Emotionen, die du dabei empfindest und das Wissen, das du dadurch erfährst, vermitteln dir die Spur und es ist nur ein Bruchteil von dem, was wirklich in der Energie der Person vorging, die alles erlebt hat. Es ist also noch mal etwas anderes, als das, was du bisher erlebt hast. Aber für einen
Weitere Kostenlose Bücher