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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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Berlin entscheiden, auch nicht aus den jungen Kandidaten, angehenden Pastoren oder Studenten, welche hie und da in mancher anderen gelehrten Zeitung spuken, nein, das Publikum, dessen Stimme zwar nicht in kritischer, aber in ökonomischer Hinsicht über unsere Schriftsteller richtet, besteht aus Friseuren, Kammerjungfern, Bedienten, Kaufmannsdienern und dergleichen.«
    Der demokratische Publizist erkennt die Doppeldeutigkeit, man könnte auch sagen, die ›Dialektik‹ dieses Prozesses ganz deutlich: »Im ganzen, glaub’ ich, hat die Menschheit durch die zur Mode gewordene Lesesucht auch der niederen Stände gewonnen. […] Unsere Literatur hat aber wohl sicher dabei verloren.«
    Während Rebmann die soziale und politische Funktion der Literatur von ihrer ästhetischen Form zu unterscheiden und beides getrennt zu qualifizieren wusste, nahm mit dem Markt auch die Zahl der Meinungsmacher zu, die den Markt reglementieren und die Meinung kontrollieren wollten. Neben schlechten Schriften sei es auch des Guten zu viel. Im Mai 1798 klagte Gleim in einem Brief an Seume: »Wahr aber ist […], dass man selbst das Beste nicht alles lesen kann! Endlich wird’s dahin kommen, dass ein Wieland so gar für sich allein zum Vergnügen wird schreiben müssen – oder man wird nur, was die Göschen für lesenswürdig halten, und zu Meisterwerken ihrer Kunst bestimmen, lesen können.« Gut zwei Jahre später schlägt Seume in einem Brief an Gleim die Einführung einer freiwilligen Selbstkontrolle vor:
Es schreibe jeder »in voller Freiheit, was er wollte; nur müsste jeder seinen Namen nennen; und man setzte ein Art von Sittengericht oder allgemeiner Bücherkommission mit liberalen Vorschriften nieder, wo jeder das seinige zu verantworten hätte. Das würde zu etwas führen und die Schranken gehörig ziehen.«
    Dieser Vorschlag ist nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch schlecht durchdacht. Wer würde denn über diese liberalen Vorschriften befinden, wer die Kommission ernennen? Wo wären die Schranken gehörig gezogen? Hier schlägt, wie öfter bei Seume, der subalterne Wunsch nach einer höchsten Instanz durch, die mit väterlicher Macht Ordnung ins Durcheinander bringt. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob diese väterliche Macht eine Kommission oder eine Person ist, ein Philosoph womöglich. Fichte hätte sich für etwas Derartiges hervorragend geeignet. Der große Philosoph verachtete den großen Geschäftemacher der Aufklärung, Friedrich Nicolai, und mit ihm gleich das große Publikum, das natürlich gar nicht ›groß‹ war, nur zahlreich: Über das der Allgemeinen Deutschen Bibliothek schrieb er: »Der Geringste unter den Lesern glaubte sich selbst zu lesen; gerade so hatte er die Sache sich auch von jeher gedacht und nur nicht den Mut gehabt, es sich laut zu gestehen. Die Unmündigen erhielten die Sprache, und das gefiel ihnen.«
    Im Wort Mündigkeit steckt der Mund, und den sollten die Unmündigen halten. Aber wer entscheidet darüber, wer unmündig und was Aufklärung ist? Erst Kant, dann Fichte, dann Hegel – je nach Zeitgeschmack und Mode? Und wie kommen Zeitgeschmack und Mode zustande? Durch die Menge, die Masse, den Markt und die Meinung? Die Katze beißt sich in den Schwanz.
    Zeitgeistphilosophien, und die von Fichte war eine, Kultbücher und literarische Zelebritäten sind Resonanzverstärker dessen, was während einer Epoche in der Luft liegt, besser gesagt in den Herzen und Köpfen. Sie bringen nicht so sehr hervor als vielmehr zum Ausdruck. Weil es dabei um Stimmungen und Schwingungen geht, konnten die Romantiker Fichtes Wissenschaftslehre, Goethes Wilhelm Meister und die Französische Revolution in einem Atemzug nennen. Eine Generation zuvor war es noch Goethes Werther , der die (jungen) Leute enthusiasmierte. Auch Seume hat den Briefroman während seiner Leipziger Schulzeit gelesen:
»Werther, der damals erschien, fiel mir sogleich in die Hände; und ich muss bekennen, er spielte dem jungen Kopfe gewaltig mit; da alles dort der Geschichte so gleich sieht, und vielleicht meistens Geschichte ist. Da aber meine Seele noch ohne Leidenschaft aller Art war, außer dem allgemeinen Enthusiasmus für das Große, Gute und hohe Schöne, so verflog die Wirkung bald wieder«.
    In einem der Briefe, aus denen der Hauptteil des Romans besteht, berichtet Werther, wie er mit Lotte ein Landgewitter erlebt: »Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der

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