Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Animositäten und der schieren Lust an der Invektive. Im Vorfeld der Xenien , jenem wenig erhabenen und ästhetisch schlecht erzogenen Angriff auf alles, was den Autonomen fernstand, zählte Schiller in einem Brief an Goethe die Gegner auf, darunter »Freund Nicolai, unser geschworener Feind, die Leipziger Geschmacksherberge, Thümmel, Göschen als sein Stallmeister«.
Seume, der zu unbedeutend war, um von den »Geschenken«, denn das bedeuten die Xenien auf Deutsch, betroffen zu sein, fühlte sich gleichwohl wie viele andere getroffen. Im Herbst 1797 schrieb er an Münchhausen:
»Die Herren [Goethe und Schiller] haben durch diese Geschenke der Nationalbildung eine Ohrfeige gegeben.«
Seume hatte gerade seine Stelle bei Göschen angetreten, und wenn der Verleger der Stallmeister der Leipziger Geschmacksherberge war, dann war Seume der Stallbursche. Die Rolle des Pferds im Stall (und in der Metapher) kam dem Reiseschriftsteller Moritz August von Thümmel zu. Man könnte auch sagen, Thümmel war als einer der bestverkauften Schriftsteller seiner Zeit die ›cash cow‹ des Verlags. Seine von 1791 bis 1805 erscheinende Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich spielten so viel ein, dass Göschen ihm 5000 Taler Honorar zahlte, mehr als für die Gesammelten Werke Goethes und Klopstocks zusammen. Goethe hatte für eine achtbändige Ausgabe Ende der 1780er-Jahre 2000 Taler von Göschen erhalten und ließ sich später vom besser zahlenden Cotta abwerben. Cotta umwarb auch Thümmel, was Seume im September 1808 veranlasste, sich in einem Brief an Cotta auf Göschens Seite zu schlagen, obwohl er längst nicht mehr für dessen Verlag arbeitete:
»Wenn Sie Göschen, wie er vielleicht fürchtet, Thümmels Reisen abwinden sollten, so ist es aus mit uns.«
Thümmel blieb bei Göschen. Und Seume nahm, drei Wochen bevor er starb, bei Göschen noch an einem Abendessen mit Thümmel teil.
An Wielands Werken, mit denen Seume wie mit denen Klopstocks zeitweise als Korrektor befasst war, soll Göschen 7000 Taler verdient haben, trotz der hohen Honorare, die Wieland verlangen konnte.
Alles in allem war die Literatur zum lohnenden Gewerbe geworden, auch wenn es sich nicht für alle gleichermaßen lohnte. Die Vertreter der Autonomie täuschten sich über diese Geschäftslage nicht etwa hinweg, sondern machten sich deswegen Sorgen. Wenn das große Publikum mit seinen Kaufentscheidungen darüber bestimmte, was als große Literatur zu gelten hatte, dann verloren die innerästhetischen Maßstäbe ihren Wert. Dies ist der Boden der Tatsachen, von dem die Autonomievertreter zu ihren Höhenflügen abhoben.
Die Debatte ist historisch, doch einzelne ihrer Elemente sind bis heute relevant in jedem Feuilletonistenstreit um U oder E.Noch die bequeme und sich selbst als ›up to date‹ missverstehende Haltung, die Unterscheidung zwischen Unterhaltungs- und ernster Kunst sei von gestern, recycelt Meinungen von vorgestern. Indifferente UE-Kunst ist nicht die Lösung des Problems, sondern lebt von ihm. Man will die Kundschaft auf dem Markt abholen (wie die Eltern die Kleinen vom Kindergarten?) und gleichzeitig doch den ›höheren Standpunkt‹ nicht verlassen, der den Nimbus des Besonderen verleiht.
Seume zu seiner Zeit ging einen Zickzackweg durchs literarische Gestrüpp, das um ihn emporschoss und auch Größeren als ihm über den Kopf wuchs. Noch in der Mitte des 18.Jahrhunderts wurden die Leser zum Lesen ermahnt, etwa 1751 von der moralischen Wochenschrift Der Mensch : »Das Lesen ist der nützlichste Zeitvertreib und das wichtigste Geschäft […] Wenn ein Mensch wegen seiner Berufsarbeit Zeit hat zu lesen, und er unterlässt es, so ist dieses ein unfehlbares Zeichen eines öden Geistes.« An des Jahrhunderts Ende war es in Mode, das Lesen als Wut, Sucht und Seuche zu verunglimpfen, oder als eine Angwohnheit, schlimm wie eine gewisse andere, die gebildete Leute von der Arbeit abhalte und ungebildeten Flausen in den Kopf setze.
Journalisten kritisierten in Journalen wortreich die Journaille, Vielschreiber publizierten Traktate über die »Bücherflut«, und kolonnenweise marschierten Buchstaben übers Papier, um den »kalten, toten Buchstaben« zu schmähen. Literaten, die mit dem Markt über sich hinausgewachsen waren, sahen dennoch im Aufstieg des Marktes den Niedergang der Literatur. 1793 schrieb der republikanische Publizist Georg Friedrich Rebmann: »Unser Publikum besteht nicht etwa aus den Tribunalen, die in Jena, Göttingen und
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