Der Wald der Könige
darauf erreichten sie die Heide und führten ihre Pferde am Zügel. Später am Nachmittag verließen sie den Wald und ritten in das üppige, stille Avontal hinab.
Noch bevor sie im Wald verschwunden waren, kam Puckle, der etwas zu erledigen hatte, zufällig an Prides Weiler vorbei und hörte die Geschichte.
»Wer ist dieses normannische Mädchen?«, fragte der Bauer. Puckle erklärte es ihm und erzählte ihm von dem Vorfall mit der weißlichen Hirschkuh.
»Sie hat einen Hirsch gerettet?« Pride grinste wehmütig.
»Sie hätte ihn mir bringen sollen.« Er stieß einen Seufzer aus. »Wir werden sie wieder sehen, glaubst du nicht?«, meinte er zu Puckle.
»Vielleicht.«
Pride zuckte die Achseln. »Sie scheint in Ordnung zu sein«, erwiderte er gleichmütig. »Für eine Normannin.«
Doch über Adelas Schicksal sollten strengere Richter urteilen als Pride und Puckle, und das bekam sie noch am selben Tag, bei Einbruch der Abenddämmerung, zu spüren.
»Eine Schande. Ein anderes Wort gibt es nicht für dich!«, tobte Walter. In der Abendsonne sah es aus, als lägen violette Schatten unter seinen leicht hervortretenden Augen. »Du hast dich vor der ganzen Jagdgesellschaft bis auf die Knochen blamiert. Du hast deinen Ruf ruiniert. Du hast mich in eine peinliche Lage gebracht! Wenn du glaubst, dass ich einen Mann für dich finde, solange du dich so benimmst…«
Für einen Augenblick fehlten ihm offenbar die Worte.
Adela spürte, wie sie vor Entsetzen und Wut erbleichte. »Vielleicht«, meinte sie kühl, »bist du ja sowieso außer Stande, mich unter die Haube zu bringen.«
»Sagen wir lieber, dass deine Gegenwart dem Vorhaben nicht eben förderlich ist.« Sein kleiner Schnurrbart und die dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen. In seiner eiskalten Wut wirkte er bedrohlich. »Ich denke, du lässt dich in nächster Zeit besser nicht mehr blicken«, fuhr er fort, »bis wir es anderswo wieder versuchen können. In der Zwischenzeit, schlage ich vor, solltest du dir eingehende Gedanken über dein Benehmen machen.«
»Nicht mehr blicken lassen?«, fragte sie erschrocken. »Was soll das heißen?«
»Du wirst schon sehen«, entgegnete er. »Das erfährst du morgen.«
Es war ein prachtvoller, sonnendurchfluteter, ruhiger Nachmittag im Hochsommer, der Jahreszeit, die als Monat der Zäune bezeichnet wurde. Damit die Hirsche ungestört ihre Jungen zur Welt bringen konnten, mussten die Bauern ihr Vieh aus dem New Forest entfernen. Dann schien es noch mehr als sonst, als hätte sich der Wald seit uralter Zeit nicht verändert. Nur hin und wieder streiften Jäger in der Einsamkeit umher, alles war still, die Sonne beschien die offenen Lichtungen, und unter den Eichen lagen Schatten, so tiefgrün wie die Algen im Fluss.
Der Bock pirschte sich vorsichtig voran. Er hielt sich im Schatten und reckte argwöhnisch den Kopf. Das sommerliche Haarkleid, hellbraun mit weißen Tupfen, bot ihm eine vollkommene Tarnung. Er war hübsch anzusehen, obwohl er sich im Augenblick ganz und gar nicht so fühlte. Stattdessen kam er sich ziemlich unbeholfen vor, und er schämte sich.
Schon seit Jahrhunderten beobachtet man, wie sich das Seelenleben des Hirsches im Sommer verändert. Im Frühjahr wirft zuerst der Rothirsch, dann der Damhirsch sein Geweih ab. Die Stangen brechen nacheinander und hinterlassen einen wunden, für gewöhnlich blutenden Stumpf oder Stiel. In den darauf folgenden Tagen ist der Damhirsch ein kläglicher Kumpan und wird manchmal sogar von den anderen Hirschen gepiesackt, wie es nun einmal in der Natur der Tiere liegt. Das nächste Geweih wächst bereits wie das zweite Gebiss, doch es dauert drei Monate, bis es vollständig ausgebildet ist. Und so ist der männliche Hirsch trotz seines neuen Sommerfells seines Schmucks beraubt, den das Geweih für ihn darstellt. Er ist nackt und schutzlos, und er fühlt sich gar nicht wohl in seiner Haut.
Kein Wunder, dass er allein durch den Wald streift.
Das bedeutet allerdings nicht, dass er dabei untätig bleibt. Denn die Natur verlangt von ihm, dass er die Stoffe aufnimmt, die er braucht, um ein neues Geweih zu bilden, also Kalzium. Und die beste Quelle dafür ist das alte Geweih, das er abgeworfen hat. Mit seinen scharfen Eckzähnen kaut der Bock daran herum. Er ernährt sich von den im Sommer reichhaltig vorkommenden Pflanzen und lebt in Abgeschiedenheit, während er geduldig darauf wartet, dass sich das Knochengewebe durch die Blutgefäße in den Stielen die Nährstoffe
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