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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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holt, langsam wächst, sich verzweigt und sich ausbreitet. Allerdings ist das wachsende Geweih sehr empfindlich. Um die Versorgung mit Blut sicherzustellen, ist es mit einer weichen, von Adern durchzogenen Basthaut bedeckt, die sich samtig anfühlt. Während dieser Monate sagt man deshalb, ein Bock sei im Bast. Da der Hirsch befürchtet, sich das kostbare Geweih zu verletzen, zieht er mit hoch erhobenem, in den Nacken gelegtem Kopf durch den Wald, sodass die samtigen Stangen auf seinen Schultern ruhen, damit sie sich nicht in Zweigen verfangen. Ein prachtvoller Anblick, der im Laufe der Jahrhunderte in Höhlengemälden und mittelalterlichen Wandteppichen festgehalten worden ist.
    Der Bock hielt inne. Obwohl er sich immer noch nicht blicken lassen wollte, wusste er, dass er das Schlimmste überstanden hatte. Sein Geweih war bereits zur Hälfte gewachsen, und er spürte die ersten chemischen und hormonellen Veränderungen, die ihn in weiteren zwei Monaten in einen majestätischen, brunftigen Hirsch mit geschwollenem Hals verwandeln würden.
    Er war stehen geblieben, weil er etwas gesehen hatte. Am Rand des Waldes, durch den er gerade zog, verlief ein Stück Heide, die nach einem knappen Kilometer leicht abfiel. Am Abhang wuchsen Silberbirken, und das violette Heidekraut wurde von einer Wiese abgelöst, die wiederum an ein Waldstück grenzte. Auf dieser Wiese bemerkte er einige Hirschkühe, die sich in der Sonne ausruhten. Und eine davon war heller gefärbt als die anderen.
    Die weißliche Hirschkuh war ihm schon in der letzten Brunftzeit aufgefallen. Auf der Flucht vor den Jägern im Frühjahr hatte er sie wieder gesehen. Er hatte vermutet, dass sie getötet worden war, doch kurz darauf hatte er sie aus der Ferne erkannt. Dass sie noch lebte, hatte ihn mit einer seltsamen Freude erfüllt. Deshalb blieb er stehen und blickte zu ihr hinüber.
    In der Brunftzeit würde sie zu ihm kommen. Das war so sicher wie die Sonne, die vom endlosen, klaren Himmel auf ihn herunterbrannte. Er wusste es dank desselben Instinkts, der ihm auch sagte, dass sein Geweih rechtzeitig wachsen und sein Körper sich verändern würde. Es war unvermeidlich. Eine Weile noch betrachtete er die kleine, helle Gestalt auf der entfernten Wiese. Dann ging er weiter.
    Er ahnte nicht, dass er nicht der Einzige war, der die Hirschkühe beobachtete.
    Als Godwin Pride an jenem Morgen losgezogen war, hatte seine Frau beim Anblick seiner Miene versucht, ihn zurückzuhalten. Doch all ihre Einwände – das Dach des Kuhstalls sei undicht, und sie habe ganz sicher einen Fuchs in der Nähe des Hühnerhauses gesehen – waren vergebens gewesen. Am späten Vormittag hatte er sich auf den Weg gemacht und nicht einmal den Hund mitgenommen. Allerdings hatte er ihr verschwiegen, was er vorhatte. Denn hätte sie es gewusst, so hätte sie wahrscheinlich die Nachbarn zusammengerufen, damit diese ihn zurückhielten. Außerdem ahnte sie nicht, dass er gleich nach seinem Aufbruch den Bogen aus seinem Versteck in einem Baum geholt hatte.
    Schon seit Monaten hatte er auf diese Gelegenheit gewartet. Seit seiner Begegnung mit Edgar hatte er sich um mustergültiges Betragen bemüht und auch den Zaun wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückgeschoben. Schon zwei Tage vor Beginn des Monats der Zäune hatte er seine Kühe aus dem Wald zusammengetrieben. Und als Cola nur einen argwöhnischen Blick auf seinen Hund geworfen hatte, hatte er ihn gleich am nächsten Tag zur königlichen Jagdhütte in Lyndhurst gebracht. Dort befand sich die Eisenschlaufe, auch Geschirr genannt – jedem Hund, der nicht hindurchpasste, wurden von Gesetzes wegen die Vorderkrallen gestutzt, damit er keine Gefahr für die Hirsche des Königs darstellte. Pride hatte darauf bestanden, seinen Hund durch das Geschirr kriechen zu lassen. »Nur, um sicherzugehen, dass er nicht gegen das Gesetz verstößt«, hatte er mit einem freundlichen Lächeln verkündet, während der Hund mühelos durch die Schlaufe geschlüpft war. Pride war auf der Hut gewesen. Auch hatte er auf das richtige Wetter warten müssen. Und heute war es so weit, denn die leichte Brise wehte aus einer anderen Richtung als sonst.
    Auch wenn es ihm nicht gelungen war, sein Stück Land zu vergrößern, er würde sich an diesen normannischen Dieben schadlos halten und sich selbst beweisen, dass er nicht ihr Laufbursche war – seine Frau hätte es vermutlich als reine Sturheit bezeichnet. Jetzt schlenderte der hoch gewachsene Pride durch den Wald

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