Der Wald der Könige
nun hatte sie einen sehr begehrenswerten Vertreter dieser Spezies kennen gelernt, dem sie offenbar gefiel. Sie fühlte sich sehr geschmeichelt und vermutete, dass das die Erklärung für ihre Hochstimmung war.
Allerdings gab sie sich mit dieser Antwort noch nicht zufrieden. Nein, es musste mehr dahinter stecken, etwas, das sie gespürt hatte, als sie mit Mr. Martell fröhlich lachend einhergeschlendert war.
In seiner Gegenwart fiel die Befangenheit von ihr ab, und sie hatte zum ersten Mal im Leben das Gefühl, sich ungezwungen bewegen zu können. Eine Leichtigkeit ergriff sie, und Schmerz und Elend schienen ihr meilenweit entfernt.
Fanny schmunzelte in sich hinein. Unwillkürlich zog sie ihr geliebtes Holzkreuz unter ihrem Kleid hervor und betastete die alten Schnitzereien. So saß sie eine Weile da und genoss die friedliche Umgebung.
Kurz darauf kehrte Nathaniel zurück und ließ sich neben ihr nieder. »Was ist das?«, fragte er beim Anblick des Kruzifixes aus Zedernholz.
»Ein Kreuz. Meine Großmutter hat es mir geschenkt. Ich glaube, es ist sehr alt.«
Er betrachtete es und nickte feierlich. »Es sieht auch alt aus.« Er machte es sich auf der Bank bequem und ließ den Blick über den Kreuzgang schweifen. »Gefällt es Ihnen hier?«, wollte er wissen, und als sie dies bejahte, meinte er: »Mir auch.«
So verharrten sie eine Weile, bis Nathaniel auf eine Stelle an der Mauer hinter Fanny zeigte. Sie blickte in die angegebene Richtung und verstand zuerst nicht, was er meinte. Dann aber bemerkte sie, dass jemand den Buchstaben »A« in den Stein geritzt hatte. Er war ziemlich klein und ordentlich in gotischer Handschrift geformt, so als stamme er aus der Hand eines Mönches aus uralter Zeit. Sie lächelte. Dieser Buchstabe »A« war ein winziger Hinweis auf ein längst verloschenes Leben.
»Wie würde sich der Mönch, der das eingeritzt hat – falls es wirklich einer war –, wundern, wenn er uns hier in seinem Kreuzgang sitzen sehen könnte«, meinte sie. »Er wäre gewiss nicht erfreut«, fügte sie lächelnd hinzu.
Und deshalb war es ein Jammer, dass Bruder Adam seinen Nachkommen nicht sagen konnte, dass er im Gegenteil sehr glücklich darüber war.
Kurz darauf erschien Mr. Gilpin und verkündete, man werde jetzt die Seilerei und anschließend die Werft in Buckler’s Hard besichtigen.
Ganz langsam bewegte sich der gewaltige Baum vorwärts. Angestrengt stemmten sich die sechs großen, hintereinander angeschirrten Kutschpferde in die Ketten. Der Wagen, den sie zogen, ächzte und schlingerte unter seiner Last. Sie brachten eine Eiche aus dem New Forest zum Meer.
Puckle seufzte. Was hatte er getan?
An dem Tag seines Treffens mit Grockleton beim Rufusstein hatte er den Wert des Baumes ganz richtig eingeschätzt. Für gewöhnlich wurden die Bäume im Winter gefällt und im Sommer weggeschafft, wenn der Boden hart war. Doch aus irgendeinem Grund hatte Mr. Adams gestattet, diesen Baum später zu schlagen. Und während man seinen beschnittenen Bruder noch ein oder zwei Jahrhunderte am Leben ließ, hatte dieser prächtige Sohn der alten Zaubereiche die scharfen Äxte zu spüren bekommen. Immer weiter hatten sie sich zu seinem zweihundertjährigen Kern vorgefressen, und schließlich war er – unweit des ehemaligen Standortes seines knorrigen alten Vaters – mit lautem Krachen auf den mit Moos und Laub bedeckten Waldboden gefallen. Dann hatten sich die Holzfäller mit Sägen und Beilen an die Arbeit gemacht.
Bei einer gefällten Eiche unterschied man drei Teile. Zuerst einmal die Enden, Äste und Wurzeln also, die man zum Schiffsbau nicht verwenden konnte. Sie wurden rasch abgetrennt und als Brennholz abtransportiert. Das wichtigste Stück des Baumes, den mächtigen Stamm, zerkleinerte man zu gebrauchsfertigen Stücken für den Schiffsbau. Und schließlich waren da noch die wichtigen Verbindungsstücke, die so genannten Knie, die Ansätze der Äste, aus denen man Winkel herstellte. Zu guter Letzt wurde die Rinde abgeschält und von Holzhändlern an Gerbereien verkauft. Allerdings lehnte Mr. Adams diese Praxis ab, weshalb die Eichen mit Rinde in Buckler’s Hard angeliefert wurden.
Nun schleppte man den Stamm – mit Ketten und Haken gesichert, das dickere Ende voran – durch den New Forest zur Werft, um ihn dort vor der Verarbeitung zwei Jahre lang zu lagern. Zum Bau des gewaltigen Vorderstevens und des Achterschiffs brauchte man einen Stamm von mindestens drei Metern Umfang. Aus einem Baum wie
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