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Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wohlleben
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Heute klingelt niemand mehr, der Computer ist heruntergefahren und nun schauen Miriam, Tobias und ich irgendeine Castingshow. Der Vorteil: Dabei kann man sich unterhalten, weil man nichts verpasst. Die Laiensänger, die verzweifelt um einen Plattenvertrag kämpfen, sind ein schöner Kontrast zum Arbeitsplatz Wald. Jetzt erst kann ich abschalten. Obwohl – mir fällt siedend heiß ein, dass ich noch eine Anfrage für unser Ökosiegel beantworten muss – Stichtag ist schon morgen. Und morgen, morgen machen wir dann auch endlich zusammen unseren Spaziergang durch den Wald …

Unser Wald
    Wir Menschen sind eigentlich gar nicht für ein Leben im Wald geschaffen. Unsere evolutionäre Vergangenheit liegt in der Steppe und deshalb sind unsere Sinne auf freie Graslandschaften mit weitem Sichtfeld ausgelegt. Wir können sehr gut sehen, akzeptabel hören und schlecht riechen. Waldtiere dagegen müssen nicht sonderlich scharfe Augen haben, weil die Sicht durch Bäume und Geäst versperrt wird. Feinde kann man in so einer Situation viel eher hören, besser noch erschnuppern, weil der Geruch viele Hundert Meter weit trägt.
    Wir können die Vergangenheit als Steppenbewohner nicht abschütteln, gleichwohl haben unsere Vorfahren das Urwaldland Mitteleuropa besiedelt. Der dunkle, dichte Wald machte jedoch Angst und war der Ort von Märchen und Mythen. Zwar verehrten Kelten und Germanen einzelne Bäume, dennoch begannen sie, Platz um ihre Siedlungen zu schaffen. Im Mittelalter beschleunigte sich das Tempo der Entwaldung, denn Holz war der Motor der Städteentwicklung, der Seefahrt und der wirtschaftlichen Entwicklung. Wegen dieser Bedeutung nennt man das Mittelalter und die Zeit bis zum 18. Jahrhundert auch das »hölzerne Zeitalter«. Der Nebeneffekt der Rodungen war, dass sich die Äcker und Weiden immer mehr ausdehnten. Dadurch konnte mehr Nahrung für die wachsende Bevölkerung erzeugt werden und endlich breitete sich um die Dörfer und Städte eine Steppe aus! Ob marodierende Söldner oder jagende Wölfe, jede Gefahr konnte nun schon von Weitem erkannt werden, während die schwindenden Wälder niemanden beunruhigten.
    Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts war der letzte Urwald endgültig gefällt, sein Holz verbaut oder verbrannt worden. Auf den Freiflächen wurde Ackerbau betrieben und überall dort, wo der verarmte Boden nicht dazu taugte, weideten Kühe und Schafe. Wölfe, Bären und Luchse waren ausgerottet und das »Steppentier« Mensch hatte endlich die Landschaftsform um sich, in der es sich wohlfühlt. Hier und da hatte man einzelne Eichen oder Buchen verschont, allerdings nicht aus sentimentalen Gründen. Ihre Eicheln und Bucheckern dienten der herbstlichen Schweinemast, bevor die Borstentiere für den Winter geschlachtet wurden. Jene einsamen Bäume wuchsen, Wind und Wetter ohne schützende Nachbarn ausgesetzt, besonders knorrig und krüppelig heran. Dieser letzten Waldreste nahm sich die Romantik an, so etwa der Maler Caspar David Friedrich. Auf manchen seiner düster-melancholischen Bilder recken sich Bäume in meist kahlen Landschaften in den Himmel. Und merkwürdigerweise sind es genau diese knorrigen Gestalten, die sich als typische Urwaldgesellen in unseren Köpfen festgesetzt haben, auch wenn dies nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.
    Wir haben einen Hang dazu, untergehende Geschöpfe zu bedauern und zu verklären. Ob es unterdrückte Völker wie die Ur einwohner Nordamerikas sind oder die letzten Blauwale, in vielen von uns regen sich tiefes Mitleid und Ehrfurcht. Und dies wurde auch den verbliebenen Bäumen zuteil. Das verlorene Naturidyll unberührter Wälder wurde verklärt und verankert sich bis heute in unseren Seelen. Mit positiven Folgen, denn mit dem Ausklang der Romantik begann der Wald, sich wieder auszudehnen. Grund hierfür war die Einführung der geregelten Forstwirtschaft auf großer Fläche, angesichts der Holzknappheit eine überlebenswichtige Neuerung. Schon Hans Carl von Carlowitz, Anfang des 18. Jahrhunderts zuständig für die Wälder um Freiberg in Sachsen, hatte 1713 das Prinzip der Nachhaltigkeit formuliert, dem zufolge nicht mehr Holz eingeschlagen werden soll, als wieder nachwachsen kann. Dieses Prinzip setzte im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem die preußische Verwaltung in ihrem Zuständigkeitsbereich kompromisslos und großflächig durch.
    Für die verarmte Landbevölkerung bedeutete das, auf Acker- und Weideflächen verzichten zu müssen, denn irgendwohin muss ten die

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