Der Wald ist schweigen
sieht Manni an.
»Soll ich das Datum von der British Airways bestätigen lassen?«
»Ja, und lass die auch checken, ob sie rausfinden können, warum sie den Flug nicht angetreten hat.«
»Ich dachte, das wäre klar, weil sie da nämlich tot war.«
»Witzbold! Aber vielleicht hat sie den Flug ja vorher umgebucht oder storniert oder so was.« Manni drückt die Kurzwahltaste, die ihn mit dem Rechtsmediziner verbindet. Besetzt.
»Am 6. Mai lebte sie noch, dafür gibt es Zeugen. Wenn der siebte Mai als Todesdatum hinkommt, können wir endlich Alibis überprüfen.«
Der Anfänger nippt an seinem Kaffee. »Es wäre schon interessant, herauszufinden, mit wem dieser Inder im Sonnenhof telefoniert hat.«
»Und noch interessanter ist, woher eine Aussteigerin, die seit ihrem 16. Lebensjahr auf der Straße lebte, das Geld für einen Flug nach Indien plus weitere 2000 Euro hatte.«
Mannis Armbanduhr beginnt zu piepsen und erinnert ihn daran, dass sie Hannah Nungesser am Flughafen abholen müssen. Er springt auf.
»Komm, Ralf, sonst verpassen wir die Nungesser. Hoffentlich kriegt ihre Tochter die Zähne auseinander, wenn ihre Mama an ihrer Seite ist.«
»Und wann klären wir das im Aschram ab?«
»Immer eins nach dem anderen. Der Tag ist noch lang.« Was eine glatte Lüge ist, normalerweise hätten sie jetzt schon Feierabend, normalerweise würde er sich spätestens jetzt mit seinen Jungs aus Rheindorf ins Karnevalsgetümmel stürzen. Mannis Handy beginnt zu vibrieren, das Signal dafür, dass Karl-Heinz Müller nun endlich aufgelegt hat. Augenblicklich drückt Manni auf Wiederwahl, froh, dem Anfänger nicht erklären zu müssen, warum sie nicht direkt in den Sonnenhof fahren. Manni hofft inständig, dass die Krieger sich an ihre Verabredung hält und um 23 Uhr in Rosi’s Schnellimbiss auf ihn wartet, damit er sie warnen kann. Denn morgen früh werden sie den Sonnenhof filzen und dann muss sie von dort verschwunden sein.
***
»Ich frage mich wirklich, warum Beate es sich zur persönlichen Aufgabe gemacht hat, jede Meditation und jede Mahlzeit in eine Trauerzeremonie für Darshan zu verwandeln!« Die leise Frauenstimme durchbricht die lähmende Stille, die im Sonnenhof normalerweise nach der Abendmeditation beginnt. Judith, die soeben auf Lauras geheimen Sitzplatz auf dem Vordach ein Zigarette anzünden wollte, hält wie elektrisiert inne. Es ist dunkel und sie sitzt ganz nah an der Hauswand. Sie hofft inständig, dass wer auch immer dort unten steht sie nicht bemerkt und noch eine Weile weiterspricht, damit sie auf diese Weise endlich einen Einblick in das bekommt, was sich zwischen den Bewohnern des Aschrams wirklich abspielt. Und es scheint so, als habe sie Glück.
»Meinst du etwa, wir sollten ihren Tod einfach übergehen?«
Der zweite Sprecher ist männlich, er spricht schnell, beinahe aggressiv, mit leichtem hessischem Akzent. Ben, der Schreiner, erkennt Judith und drückt sich noch ein bisschen enger an die Wand.
»Nein, natürlich nicht, klar müssen wir um Darshan trauern«, beschwichtigt die Frauenstimme. »Aber Beate ist doch nun wirklich diejenige, die am wenigsten Grund hat, sich dabei aus dem Fenster zu lehnen.«
»Wer sollte denn deiner Meinung nach dafür sorgen, dass wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen?«
»Vielleicht Vedanja, die beiden waren doch befreundet. Oder Heiner selbst.«
Judith kann die Sprecherin immer noch nicht identifizieren, aber die Art, wie sie über die anderen spricht, legt nahe, dass sie keine Kursteilnehmerin, sondern eine jener 17 Menschen ist, die fest im Aschram leben. Etwa 150 Euro im Monat zahlt ihnen Heiner von Stetten dafür, Kost und Logis sind natürlich frei, auch eine Krankenversicherung finanziert der Psychologe. Im Gegenzug wird Mithilfe in der Landwirtschaft, in der Werkstatt, im Haus und in der Küche erwartet. Einige Aschrambewohner haben noch nicht einmal ein Einzelzimmer. Es kann also nicht sein, dass das Zusammenleben im Sonnenhof so konfliktfrei ist, wie Heiner von Stetten, seine Frau, der rothaarige Kermit und alle anderen das behaupten, die Judith vorsichtig befragt, sobald sich zwischen Yogastunden, Schweigeritualen und Meditationen eine Gelegenheit dazu ergibt. Die Menschen sind nun einmal nicht so friedlich, wie sie es gerne wären. Liebe, Begehren, enttäuschte Hoffnungen und Missverständnisse – das Zusammenleben gleicht einem Minenfeld, das umso gefährlicher wird, je enger man miteinander leben muss. Und daran können auch Biofood,
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