Der Wanderchirurg
Schärfste! Für heute werde ich gehen. Aber ich versichere Euch, Bischof Mateo, dass ich morgen wieder hier an gleicher Stelle stehen werde.«
»Und ich ebenso!«, ergänzte Cullus. »Zusammen mit uns«, sagte Orantes fest. Gaudeck, Cullus, Orantes und die Jungen entfernten sich rückwärts gehend aus dem Raum.
»Und wenn es sein muss, auch übermorgen«, rief Gaudeck entschlossen, »so lange, bis Ihr Vitus endlich freigebt!«
Der Abt Gaudeck
»Der Wahlspruch unseres Ordens heißt zwar Ora et labora, liebe Brüder und Freunde, aber ich denke, am heutigen Abend können wir ihn um einen Imperativ erweitern: celebra.«
H ohl hallten die Schritte von Vitus und Nunu im Gang wider, als sie sich der Zelle näherten. Ein Kind schien irgendwo in der Ferne zu schluchzen, stoßweise und verzweifelt. Als sie vor der Kerkertür standen, wurde das Schluchzen stärker. »Hörst du das?«, fragte Vitus. »Es klingt, als würde ein Kind weinen.« »Hier sin keine Kinder nich«, versetzte der Koloss, »'s kommt aus der Zelle.« Er schob den schweren Riegel zur Seite, steckte den Schlüssel ins Schloss und sperrte auf. »Rein mit dir, Ketzerdokter!«
Vitus trat in den Raum und erstarrte. Die Ursache der Geräusche war der Magister. Er saß zusammengesunken an der Wand, und vor ihm auf dem Boden, in unnatürlichem Winkel ausgestreckt, lag Martinez. Sein gesundes Auge blickte so tot wie sein blindes.
»Was is?«, fragte Nunu, der sich hinter Vitus in den Raum drängte.
»Ich hab's nicht gewollt!«, schluchzte der Magister. Seine schmalen Schultern zuckten. »Ich hab's nicht gewollt! Bei allen Heiligen, ich hab's wirklich nicht gewollt!«
»Was ist geschehen? Erzähle.« Vitus setzte sich neben den kleinen Mann auf den Boden.
»Wir hatten Streit, wir ...«, der Magister krächzte, ihm versagte die Stimme. Er griff sich an den Kehlkopf. »Lass sehen.« Vitus nahm ihm die Hand fort und untersuchte die Stelle. »Martinez hat dich gewürgt, stimmt's?«
»Ja.« Ein neuerlicher Schluchzanfall schüttelte den kleinen Mann. Er war völlig außer sich. Vitus nahm ihn in den Arm und wiegte ihn wie ein Kind. Langsam beruhigte er sich.
Dann begann er zu erzählen, erst stockend, dann immer flüssiger. Das Reden war wie eine Befreiung. Es war wieder einmal um die Juden gegangen. Martinez hatte eine seiner unflätigen Bemerkungen gemacht, und dem Magister war der Kamm geschwollen. Ein Wort hatte das andere gegeben. Schließlich waren beide wutentbrannt aufeinander losgegangen; der Einäugige hatte den Magister angespuckt und ihm anschließend brutal die Luft abgedrückt. Der kleine Mann war schon fast erstickt, als seine Hand plötzlich an den Datumstein geriet, der hinter Martinez in der Mauer steckte. In seiner Not hatte er den Stein ergriffen und ihn dem Angreifer gegen den Kopf geschmettert. Martinez hatte seinen Griff gelockert und war zurückgetaumelt. Der Magister hatte unter ihm wegtauchen und einen Schritt zurückspringen können. Aus dieser Sicht hatte er alles Weitere wie von einem Logenplatz beobachtet: Der taumelnde Martinez war auf einem Stück Rattenkot ausgerutscht, nach hinten gefallen und mit dem Kopf gegen die Mauer geschlagen. Genau an jene Stelle, wo sich kurz zuvor noch der Datumstein befunden hatte. Am Boden liegend hatte sein kräftiger Körper sich noch einmal aufgebäumt, dann war der Tod eingetreten.
»Es war wie ein Spuk«, flüsterte der Magister.
»Das glaube ich dir«, beruhigte ihn Vitus. Er richtete sich auf und ging zu dem Leichnam. »Nunu, hilf mir, den Mann umzudrehen, ich möchte mir seinen Hinterkopf ansehen.«
»Ja, Ketzerdokter.«
Nach kurzer Untersuchung stand fest: Durch den Datumstein hatte Martinez zwar eine klaffende Schlagwunde an der linken Schläfe davongetragen, doch war diese Verletzung nicht die Todesursache gewesen. Der Exitus war durch den Maueraufprall herbeigeführt worden. Vitus befühlte mit dem Finger die Stelle des Schädels.
»Man kann es genau ertasten«, sagte er. »Die Kalotte ist eingedrückt, das Gehirn so schwer verletzt worden, dass der Tod fast übergangslos eintrat.«
»Was machen wir nu, Ketzerdokter, was machen wir nu?« Nunu begriff allmählich den Ernst der Situation. Er starrte ängstlich in die blicklosen Augen des Toten.
»Erst einmal Ruhe bewahren! Eines steht fest, wir müssen den Toten so schnell wie möglich verschwinden lassen. Und, wichtiger noch, niemand darf etwas bemerken, alles muss so sein, als hätte es Martinez nie gegeben. Sonst könntest
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